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„Marco hat Recht. Herr je, du verkommst hier doch. Immer sitzt du nur vor deiner blöden Kiste, hörst diese grausige Musik, in der nur über Selbstmord gesungen wird und treibst dich auf Friedhöfen herum. So kann man doch nicht leben! Du musst auch mal die guten Seiten im Leben sehen. Das Leben macht doch Spaß.“
Lauras Statement zu meinem Schicksal, dessen Verlauf nur sie allein ganz genau zu kennen schien. Sie gehörte zu den Leuten, die ganz rasch mit dem Stempel zur Hand waren und jeden in eine Schublade steckten.
Hobbypsychologin mit einem Hang zur Allwissenheit. Dabei verstand sie kaum die einfachsten Dinge. Nicht eine der Bands, die ich gern hörte, sprach sich für Selbstmord aus. Warum sollten sie auch ihre Fans in den Tod treiben, die waren doch reinstes Kapital. Und den Friedhof besuchte ich höchstens, wenn ich Blumen auf das Grab meines Vaters legte, der vor zwei Jahren an seiner Säuferleber gestorben war – übrigens ein weiterer Beweis dafür, dass die Kombination von Hauptschullehrer und Alkohol sichere Garanten für Pensionseinsparungen waren.
Und dieses Gefasel vom Licht am Ende des Tunnels, von der Erleuchtung der Liebe, von all dieser Sinnesnahrung für Lichtfresser. Laura sprudelte geradezu über von solchen Weisheiten.
Betrachtete ich mir die Welt wirklich, war dort viel zu sehen, nur keine hellen Flecken. Im Gegenteil. Unsere Erde gebar mit jedem Tag neuen Schmutz in Form eines zukünftigen Spitzenpolitikers oder Wirtschaftsbosses. Der blaue Planet steuerte unausweichlich seinem Ende entgegen, da brachte es auch nichts, wenn einige Hell-Seher wöchentlich zwanzig Kilometer mit ihrem Rad fuhren, einer von Lauras Beiträgen zum Umweltschutz. Sie radelte ihr mit etlichen chemischen Substanzen auf Hochglanz poliertes Rad. Jeden Sonntag im Sommer, wenn das Wetter mitspielte.
Größere Strecken wurden mit dem Auto bewältigt. Kurze ebenfalls, wenn es etwas zu besorgen gab, das man ja unmöglich mit dem Rad transportieren konnte. Ein Brot vom Bäcker beispielsweise, dessen Laden sich etwa drei Minuten Fußmarsch von ihrer Wohnung entfernt befand.
Auch wenn es darum ging, in Modeboutiquen Geld zu verschleudern, galt ein Benzin fressender Luxusschlitten mit einem Mal nicht mehr als gefährlich für unsere gute alte Erde. Nein, ein solches Gefährt war dann wohl in ihrer Gedankenwelt mit allen technischen Finessen aufgemotzt um wahrscheinlich schon Blümchen aus dem Auspuff zu scheißen.
Gott, ich hasste diese fadenscheinigen Weltretter. Immer darauf bedacht, anderen die Schuld an unserem Dilemma in die Schuhe zu schieben. Bei sich selbst sahen sie keine Fehler. Kein Wunder, niemand von ihnen suchte danach.
Sollten sie doch alle ihre Lichterketten zur Schau stellen und daran glauben, das könnte eine Horde Panzer davon abhalten, ganze Länder zu entvölkern. Sollten sie weiterhin ihre Augen vor Leid und Ungerechtigkeit verschließen, vor Babys in Mülltonnen und der offensichtlichen Verarsche aller Menschen durch die hohen Tiere.
Mir war es gleich, solange mich dieser Schlag Mensch mit den halbseidenen Weisheiten in Frieden ließ.
„Wenn du so weitermachst, wirst du nie eine anständige Frau kennenlernen“, zeterte sie weiter. Laura hätte meine Mutter sein können, wenn meine Mutter nicht in Ordnung gewesen wäre und mir nie Freiraum für die eigene Entwicklung gelassen hätte. „Du musst mal die Augen aufmachen und dich in der Welt umsehen. Wir meinen es doch nur gut mit dir.“
Ich machte meine Augen auf. Und wie ich sie aufmachte. Um mich herum brodelte die Kacke des Daseins. Nur weil sie und ihre tollen Mitstreiter nichts sehen wollten, warf sie mir nun Blindheit vor. Dabei war meine Realität einfach einen Tick realistischer.
Natürlich verlor ich mich gern im virtuellen Raum. Probleme wurden dort auf einfache, brachiale Art gelöst. Angriffe musste ich nicht einfach schlucken. Aber es war eine virtuelle Welt, nicht der Mist, der mich umgab, in dem ich atmete und lebte.
Für sinnlose Diskussionen fehlte mir die Lust, trotzdem durften ihre Attacken nicht einfach so hingenommen werden. Verdammt, warum fing ich jetzt damit an, die Augen auf den Boden zu richten, mit einem Zipfel meines T-Shirts zu spielen, mit dem Fuß nervös über den Teppich zu fahren? Warum jetzt?
Trotz allen Mutes, den ich aktiviert zu haben glaubte, kam von mir nichts weiter als ein gestammeltes: „Ich ...“
Sie warteten. Alle drei warteten auf meine Antwort. Zu viele Gedanken schwirrten in meinem Kopf umher. Unfähig, auch nur einen davon zu fassen und ordentlich zu artikulieren, blieb es bei diesem einen Wort.
Schließlich war es Marco, der Mann, den ich guten Gewissens verabscheute, der meinen Hals aus der von Laura geknüpften Schlinge zog: „Hey, wir wollen uns doch nicht streiten. Mann, Roddy, dein Ge-he-buuurts-taaa-haaag. Schon vergessen?“
Ich hasste es, wenn er Worte in der Weise betonte, dass sie sich wie ein jämmerliches Singen anhörten. Dennoch verdankte ich ihm meine Rettung vor Lauras Versuch, heilig gesprochen zu werden. Er hatte mir weitere Peinlichkeiten erspart, würde diese aber bald durch andere, neue unangenehme Situationen ersetzen.
Strategische Freunde trieben mich immerzu in alle möglichen Ecken. So sehr ich es versuchte, gegen sie gab es keine Möglichkeit zur Verteidigung. Maßlose Eitelkeit und Brachland in den Schädeln machten sie zu überstarken Gegnern, die mit Intelligenz nicht zu schlagen waren.
Aber andere Waffen besaß ich nicht und wollte auch keine sonstigen haben.
„Ja, hast ja Recht“, entgegnete jemand mit meiner Stimme, der auch noch zufälliger Weise in meinem Körper steckte, aber unmöglich ich sein konnte. „Es ... tut mir leid, ich bin noch ... etwas ... verschlafen, glaube ich.“
Und wieder ein verlegenes Grinsen um meinen Mund, wieder den Blick gesenkt und die rechte Hand kratzend am Hinterkopf. Ich hasste diesen dämlichen Feigling, der sich immer in den unpassendsten Augenblicken zu Wort meldete – aber er war leider ein Teil von mir.
Um nicht zu sagen, der womöglich größte Teil meiner Persönlichkeit.
„Ja“, lachte Marco, „das merkt man. Ist ja auch egal, wir wollen jetzt ein wenig feiern. Geh dich schon mal fertig machen und ich schenke uns von dem guten Tropfen hier ein.“
Er zwinkerte mir zu: „Heute darf man auch mal am Vormittag ein Schlückchen süffeln, oder?“
„Ach, du weißt doch, dass ich keinen ...“
„Nix da, Roddy. Heute wird mal richtig gelebt, Mensch. Mal richtig die Sau rausgelassen. Los, verwandele dich in einen Menschen. Und zieh ordentliche Sachen an, nicht diese Trauerkleidung. Man kann sich ja mit dir dann nicht sehen lassen.“
Mit den letzten Worten zauberte Marco eine Flasche Champagner aus dem kleinen Stoffbeutel hervor, den er mitgebracht hatte und begann mit dem Ritual des Flaschenöffnens.
Mir blieb nichts weiter als in das Spiel einzusteigen. Vorher ließen die mich nicht in Ruhe.
So ein Dreck, damit war der Samstag hinüber. Wussten die eigentlich, dass ich nur eine begrenzte Anzahl an Jahren auf der Erde zur Verfügung habe? Wenn ja, wäre es ihnen sowieso egal. Hauptsache, sie hatten ihren Spaß.
13.01.2010
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Kapitel 2
Etwa eine Stunde später, nachdem mir ein Glas Champagner eingeflößt worden war – übrigens mit der Drohung, solange bei mir in der Wohnung zu bleiben, bis ich das Glas geleert hatte –, befanden wir uns auf dem Weg in ein Lokal der gehobenen Klasse. Hier trafen sie sich, die jungen und reichen Söhne und Töchter. Hier wurde Smalltalk betrieben, man tauschte Oberflächlichkeiten aus und verteilte freigiebig falsches Vertrauen untereinander.
Am Eingang wurden wir aufgehalten, da man In-Läden vor Pack wir mir ja schützen musste. Aber ein rasch gezückter Fünfziger und Marcos „Das ist einer meiner besten Freunde“-Ansprache zeigten ihre Wirkung. Kaum war der Schein in der Designer-Innentasche des Designer-Jacketts verschwunden, das der Designer-Rausschmeißer ein wenig zu gut ausfüllte, trat er auch schon mit seinen Designer-Schuhen beiseite und ließ uns ein.
Sauber war es. Sauber und hell. Alles hier drinnen war viel zu bunt. Wände, die nicht durch riesige Fenster ersetzt waren, strahlten mir in neongelb entgegen. Der Boden lachte mich mit leuchtendem Rot an und Tische samt den passenden Stühlen waren in kaltem Chrom gehalten. Dann diese Bilder. Moderne Kunst, bei der man nicht wusste, ob der Künstler auf die Leinwand gemalt oder Farbe gekotzt hatte.
Wer sich an solchen Orten wohl fühlte, hatte einfach kein Herz. Von Geschmack gar gar nicht erst zu reden.
Aus kleinen Boxen, die jeder Ecke hingen, drangen die neuesten Radiohits. Beschallung, keine Musik. Heutzutage gab es keine wirkliche Musik mehr in den Charts. Meist bekam man näselnde Kleinkinder, Windelgangster und Heulbojen zu hören. Wem das noch nicht genügte, verbrachte zusätzliche Abende unter dem Schlagerhimmel oder bei Party-Mucke á la „Da steht ein Pferd auf dem Flur“ und ähnlichen Hirnbrennern.
Naja, das machte weiter nichts, denn bei dem Alkoholpegel im Blut, der einen sowas gut finden ließ, hatte der Denkapparat ohnehin nichts mehr zu melden.
An jedem Tisch saßen einige Leute in angeblich tollen Klamotten, die man gefälligst als In-Mensch zu tragen hatte und begrüßten Marco. Er musste hier eine Szenegröße sein.
Sobald sie mich sahen, verschwand ihr falsches Lächeln und sie machten keinen Hehl daraus, dass ich eine Art Bedrohung darstellte.
Ein Außenseiter hatte ihre heiligen Hallen betreten, entweihte ihren Tempel. Doch sobald sie erkannten, dass ich wohl Marcos Haustier sein musste, nickten mir die jungen Männer mit ihren glänzenden Seitenscheiteln kurz zu.
Nicht freundlich, sondern mehr dem ungeschriebenen Gesetz der Fassadenmenschen gehorchend. Immer schön freundlich sein, aber bloß auf Distanz bleiben.
Gut so. Dagegen hatte ich bestimmt nichts einzuwenden.
Sollten sie mich ruhig wie einen Aussätzigen behandeln, das ersparte mir den Umgang mit ihnen. Belanglosigkeiten auszutauschen war anstrengend und hinterließ im Mund immer diesen bitteren Beigeschmack, Wahrheiten und Ehrlichkeit einfach wieder heruntergeschluckt zu haben.
Die ganze Qual dauerte bis zum frühen Abend. Wir tranken überteuerte Getränke und aßen überteuerte Probepackungen, die sich Menü schimpften. Auf weißen Tellern mit feinen, bunten Linien gab es Fleischkleckse, vereinzelte Gemüsekrümel und Reis- oder Kartoffelfundstücke. Mehr zum bewundern als dass es einen sättigen konnte. Schön angerichtet, herrlich künstlerisch gestalten – mit dem Nährwert einer vertrockneten Nudel.
Zwischen dem optischen Mahl und den Getränken unterhielten wir uns über dies und jenes. Nun, Marco und sein Gefolge unterhielten sich, ich selbst blieb die meiste Zeit über still. Es gab nichts, zu dem mir etwas eingefallen wäre. Kein Thema, das sich lohnte, es weiter zu diskutieren.
Marco versuchte ganz nebenbei Christine und mich zu verkuppeln – oder was immer da in seinem Kleingeist umherspukte.
„Der Roddy hat schon was im Kopf. Und einen guten Job hat er auch“, pries er mich ihr gegenüber wie ein Sonderangebot an. „Du musst dem nur mal zeigen, wie man sich richtig anzieht und Spaß hat. Dann ist das ein prima Kerl, der Roddy.“
Jetzt zwinkerte er mir zu, grinsend. Christine sagte nichts. Ihr schien die ganze Sache ebenso unangenehm zu sein, wie mir selbst. Verzweifelt drehte die Blondine – ich konnte blondes Haar übrigens gar nicht ausstehen, nur in gewissen Ausnahmefällen – ihren Kopf in sämtliche Richtungen um Marcos und meinem Blick auszuweichen.
Vor mir hätte sie sich nicht verbergen müssen, da ich es ihr gleich tat.
Marco stand auf, trat hinter mich und stützte sich auf meine Schulter. Ganz so als seinen wir die besten Freunde. Vereint in Brüderlichkeit. Ein Frösteln durchzuckte meine Glieder. Körperliche Nähe war schrecklich, sie engte mich ein, raubte mir die Atemluft. Nur wollte ich mich nicht wehren, es hätte ihn vermutlich beleidigt.
So sehr ich den Kerl auch verabscheute, ich durfte es mir mit ihm nicht verscherzen. Immerhin sorgte er dafür, dass mein Dispo immer mal wieder kurzfristig erhöht wurde, sollte es notwendig sein.
„Roddy, schau her, die Christine ist doch was Scharfes. Die ist genauso schüchtern wie du, aber sie kennt sich in der Welt aus. Kann dir mal beibringen, wie man richtig lebt. Die ist nicht leicht zu haben, mein Junge. Hast du ein Glück, dass du mich kennst, sonst würde sie sich gar nicht mit dir unterhalten.“
Tat sie auch so nicht. Mir war es lieb, so brauchte ich nicht irgendwelche Masken zu tragen.
„Du musst dich einfach ändern, Mensch“, fuhr Marco mit seinem Monolog fort. Nur, dass seine Tonlage ernster wurde. „Kannst nicht immer in deiner Gruft hausen und dich auf Friedhöfen herumtreiben mit diesem Gruftievolk. Die bringen dich noch auf dumme Gedanken. Am Ende betest du auch noch Satan an und bringst Leute um. Oder sogar dich selbst. Du musst da raus, Roddy, das ist nicht gut.“
Bescheuertes Arschloch, du hast doch gar keine Ahnung, um was es geht, du kennst doch nur deinen Wolkentempel und dieses geldgeile Gesocks – dachte ich, natürlich kam es nicht über meine Lippen, obwohl es höchste Zeit dafür gewesen wäre.
Immer und immer wieder dieses Gequatsche über eine Welt, die er nicht verstand. Es nervte einfach gewaltig. Da wurde ein Klischee nach dem anderen ausgegraben und einfach als Fakt in die Gegend gebrüllt. Würde er mich wirklich kennen, dann wüsste er, dass ich keinem seiner Vorurteile entsprach.
„Marco meint es doch nur gut.“
Jetzt mischte sich auch noch Laura ein um ihrem Herrn und Meister speichelleckend zur Seite zu stehen. „Guck doch nur, wie du aussiehst.“
Bingo! Das war Talkshowniveau live. Und ich saß auf dem heißen Stuhl, in der Mitte des Studios. Um mich herum all diejenigen, die mir den Kopf waschen wollten, weil sie sich für perfekt hielten.
Fehlte nur noch ein Moderator. Nun, diese Rolle durfte man wohl Marco zuschreiben.
Seine Freundin hätte von jetzt an still sein können, da sie ihren Standpunkt überdeutlich klargemacht hatte, aber so leicht kam ich nicht davon. Sie redete weiter. Vermutlich wurde sie heiß, wenn sie die eigene Stimme lange genug hörte oder es brachte ihr das Gefühl, einmal etwas mit Inhalt gesagt zu haben, auch wenn dieser fadenscheinig sein mochte.
Im Grunde wiederholte sie aber nur Marcos Gelaber, betete die typischen Worte der Lichtfresser: „Immer nur schwarze Klamotten, die Glatze und dann noch der grässliche Bart. Das ist ja so out, Roddy. Damit wollen doch ordentliche Leute nichts zu tun haben.“
Sie kam etwas näher und senkte ihre Stimme.
„Es gibt sogar schon Leute, die denken, du wärst in der rechten Szene.“
Ach, sieh einer an. Da machte sich die Tochter eines erzkonservativen Fabrikanten von Fernsehapparaten und Lautsprechersystemen, dem eine Hautfarbe gar nicht weiß genug sein konnte, Gedanken um Spekulationen anderer Idioten über meine Gesinnung. Wer mich kannte, der wusste um meine deutlich links gerichtete Einstellung.
In Wahrheit kümmerte mich Politik längst nicht mehr, da die großen Politbonzen sowieso taten was sie wollten. Das Volk war doch nur mehr ein lästiges Anhängsel, auf das gerade einmal kurz vor Wahlen zugegriffen wurde.
Auch zu ihr sagte ich nichts. Doch, kläglich versuchte ich mich zu verteidigen: „Ich bin nicht so.“
„Wir wissen das, aber alle anderen nicht. Unsere Freunde reden über dich. Marco erklärt denen immerzu, dass du harmlos bist und nur auf den rechten Weg geführt werden musst.“
Auf den rechten Weg geführt werden – wie passend aus ihrem Munde, diese Doppeldeutigkeit.
„Das ist doch egal“, erwiderte ich, noch immer kleinlaut. „Wie oft hänge ich mit Sergej und Ahmed in Clubs herum? Wie würde das denn passen?“
„Na, das ist ja ganz toll“, schoss es aus dem Mund der Fabrikantentochter. „Ein Russe, der wahrscheinlich alles klaut und ein Araber. Solche Kerle haben doch immer Dreck am Stecken. Die sind nicht ganz sauber, wollen uns doch nur unterwandern“,
Ohne es zu merken, redete sich Laura um Kopf und Kragen. Endlich offenbarte sie ihr wahres Ich. Stammtischweisheiten, gepaart mit fragwürdigen Meinungen ihres Vaters. Ganz nebenbei bemerkt kam Sergej aus Polen und Ahmed war der Sohn portugiesischer Einwanderer, denen einfach nur der orientalische Name gefallen hatte. Soviel zu Lauras Informationsstand, der sich allein aus Vermutungen, Klatsch und Hirngespinsten zusammensetzte.
Das armselige Produkt eines herrschsüchtigen Großindustriellen und einer ignoranten, äußerst oberflächlichen Mutter. Solche Verbindungen brachten keine voll funktionsfähigen Menschen zustande. Irgendwo sammelte sich grundsätzlich Datenmüll an, der nie mehr beseitigt werden konnte.
Gehirne waren wie Festplatten. Normal gelöschte Datensätze dümpelten noch immer in irgendwelchen dunklen Ecken. Von dort griffen sie hin und wieder in sich abspielende Programme ein. Veränderten etwas den Ablauf, ähnlich einem eher harmlosen Virus.
Meinungen von Lauras Vater waren also nur vergraben und suchten sich manchmal einen Weg an die Oberfläche. Unbewusst wirkten ihre Äußerungen, vorgekaut. Alles konnte sie sich auch nicht merken, was in ihrem Zuhause beim Abendessen so von sich gegeben wurde. Die Speicherkapazität ihrer Festplatte war erschreckend gering.
„Quatsch nicht, die sind in Ordnung und mir macht es nichts aus, woher sie kommen“, verteidigte ich Sergej und Ahmed.
„Jetzt hört doch mit dem Scheiß auf.“ Marco gefiel es gar nicht, dass seine Freundin ein ansatzweise politisches Gespräch aufbringen wollte. „Wir wollen hier feiern, Spaß haben. Und wir wollen unserem Roddy ein Date verschaffen. Aber wie ich sehe, bockt der Herr mal wieder.“
„Ich bocke nicht, ich bin nur momentan nicht an sowas interessiert. Vielleicht, wenn ich den Auftrag erledigt habe. Da ist noch etliches an Programmierarbeit zu leisten. Außerdem muss ich auch die grafische Oberfläche gestalten. Geht nur mit einem klaren Kopf.“
Marco funkelte mich böse an: „Ausreden. Nichts als Ausreden. Mein lieber Freund, du bringst uns noch soweit, dass wir nicht mehr mit dir ausgehen wollen.“
Oh ja, bitte, dachte ich. Etwas Besseres konnte mir überhaupt nicht passieren. Befreit von Marco und seinem Gefolge, eine herrliche Vorstellung. Hätte ich mit meinen ernsten Themen einfach weitergemacht, so wäre ihm bald die Lust vergangen, mir seine Hilfe aufzuzuwingen.
Wie so oft lenkte ich ein, verzichtete darauf, weitere Gedanken in Worte zu packen. Es brachte nichts, Marco zu vertreiben, solange die Zeche noch bezahlt werden musste. Er hatte mich eingeladen und dabei sollte es auch bleiben. Nicht auszudenken, welche Rechnung mich in diesem Laden erwartet hätte.
Da waren sie wieder. Überlegungen, die Marco zu einem meiner strategischen Freunde machten. Sollte ich mich dafür schämen, ihn in gewisser Weise auszunutzen? Nein, das alles hatte er verdient. Wer sich dermaßen anbiederte, hatte es nicht besser verdient. Abgesehen davon schenkte ich ihm einen Grund, den Gönner und Wohltäter spielen zu dürfen. Er kümmerte sich um Roddy, das Kellerkind.
Wieder versuchte Marco meine Person Christine schmackhaft zu machen und wieder wehrte sich die schüchterne Brillenträgerin mit der dezenten Schminke vehement.
All das Anpreisen, um das ihn jeder Gebrauchtwagenhändler beneidet hätte, führte zu keinem Erfolg. In Marcos Welt bedeutete das wohl ein absolutes Versagen bei den Verhandlungsgesprächen.
Falsch und bitter klang sein Lachen als er sich wieder neben Paula setzte: „Ihr seid beide nicht ganz dicht. Da könntet ihr ein Paar werden und dann ziert ihr euch. Macht doch, was ihr wollt, aber kommt bloß nicht zu mir gerannt und jammert, wie allein ihr doch seid. Ich hab alles versucht.“
„Lass sie doch“, beschwichtigte ihn Laura.
Ein Blick von ihm ließ die Blondine mit den längst unmodern gewordenen Strähnchen sofort wieder verstummen.
Kontrolle.
Darauf basierte Marcos Lebensinhalt. Solange er Situationen und Menschen unter Kontrolle hatte, war er glücklich. Meine Sturheit passte nicht in seinen Plan, entzog sich seiner Matrix. Bei Christine sah der Bankzombie keine Probleme, sie durfte sich ein wenig zieren. Immerhin war es von Marco schon ein wenig gewagt, seiner Schwägerin in spe einen depressiven Satansjünger – denn genau das stellte ich für ihn wohl dar – aufzuschwatzen.
In Wahrheit hätte es ihn schockiert, wäre Christine auf mich angesprungen. Es gehörte zum Spiel und stimmte ihn froh, wenn er sie und mich vorführen konnte und allen beweisen konnte, was für ein toller und absolut hingebungsvoller Freund er einem war. Mehr nicht. Würden Christine und ich tatsächlich zueinander finden, hätte er die Kontrolle über das Spiel verloren.
„Weißt du, was dein Problem ist, Roddy?“
Oh je, all der Alkohol am frühen Nachmittag und meine rebellische Ader hatten ihn scheinbar aus der Reserve gelockt. An Marcos Schläfe pochte eine Ader. Dieses eindeutige Zeichen konnte nur bedeuten, dass ich seinen Prozessor bis an die Grenze der Belastbarkeit getrieben hatte.
Er suchte nach den richtigen Worten, kippte seinen Cocktail mit einem Zug hinunter und bestellte einen weiteren.
„Dein Problem, Roddy“, sagte er mit unterdrückter Wut in der Stimme, „dein allergrößtes Problem ist, dass du keine Ratschläge von guten Freunden annehmen willst. Freunde, die dir nur zeigen wollen, wie man richtig lebt.“
Recht so, sag mir ins Gesicht, dass ich ein Nichts bin, dachte ich und hielt meinen Blick gesenkt. Hätte er mich als Feigling tituliert, so wäre er auf dem richtigen Weg gewesen, aber als einen Versager sollte man mich nicht sehen. Immerhin war ich selbständig und verdiente genug um prächtig über die Runden zu kommen. Sogar einige Extras konnte ich mir ohne Probleme leisten.
„Du lebst da in deinem Alptraum und denkst auch noch, das wäre cool. Überall siehst du nur Tod und Verderben. Du rennst doch dem Grab so richtig hinterher.“
Einmal mehr hatte Marco den Durchblick. Er wusste, wie die Leute tickten, nur er kannte alle Facetten des Lebens. Ein Wunder, dass Marco noch nicht zum Gott aufgestiegen war.
„Mensch, Roddy, das nimmt kein gutes Ende. Und dieser Satansquatsch. Denkst du, das wäre erwachsen? Denkst du das? Wie ein Zwölfjähriger führst du dich auf. Ganz zu schweigen von deiner Abhängigkeit, dieser Computerwahn, all der Internetscheiß. Mehr kennst du doch gar nicht mehr. Und dann diese bescheuerten Spiele, mit denen du dein Hirn kaputt machst. Gewaltspiele, Menschen abschlachten – das ist doch nicht normal. Roddy, du bist auf einem ganz falschen Weg, verdammt nochmal!“
Ein Blinder beschrieb einem Sehenden die Farben der Welt. Grotesk. Einfach grotesk.
„Marco, hör doch ...“, versuchte Laura ihren Freund wieder ein wenig zu besänftigen.
„Halt bloß die Fresse, wenn ich rede“, brach es aus ihm heraus.
Entsetzt fuhr Laura zusammen. Sie blickte sich um und sah die Augen der anderen Gäste auf unseren Tisch gerichtet. Ihr Gesicht färbte sich rot. Es war ihr unglaublich peinlich, in der Öffentlichkeit von ihrem Freund derart angeschnauzt zu werden. Was sollten da nur die anderen feinen Söhnchen und Töchterchen von ihr denken?
Auch Marco begriff wohl, dass der Wutausbruch seinem Image schadete. Rasch zeigte er ein falsches Lächeln und beugte sich dann näher zu seiner Freundin. Leise zischend fuhr er sie an: „Wenn der Mann redet, hat sich die Frau still zu verhalten. Kennst das doch von deinem Vater.“
Lauras Blick wurde finster. Sie verzog ihren Mund vor Zorn und warf das auf dem runden Metalltisch liegende Handy in ihre Handtasche. Dann packte sie Christine am Arm, sagte eiskalt: „Komm, wir gehen!“ und verließ mit ihrer Schwester im Schlepptau das moderne Eishaus der Erfolgreichen.
Marco sah den beiden nur nach, machte aber keine Anstalten, sie aufzuhalten. Als die Frauen zur Tür hinaus waren, blickte er mir in die Augen. Ich sah geradezu die Abgründe seiner Seele.
Leere.
Mehr war da nicht zu erkennen. Absolute Leere.
Seine Liebe zu Laura konnte nicht gefühlsecht sein. Eine den niedersten Trieben unterworfene Sache, gepaart mit gesellschaftlichen Erwartungen und Verpflichtungen. Aber keine Liebe. Nicht die Art von Gefühlen, die man für jemanden empfinden sollte, den man sich für eine Partnerschaft ausgesucht hatte.
Ob Marco überhaupt in der Lage war, für andere etwas zu empfinden, durfte bezweifelt werden. Seine Gedanken drehten sich ausschließlich um die eigene Person. Kompromisse, die in jeder Paarbeziehung von beiden Parteien als unerlässlich angesehen werden sollten, solange man sich nicht verbiegen ließ, gehörten nicht zu Marcos Welt. Solche Dinge ging er nur auf geschäftlicher Ebene ein. Ansonsten hatte man sich ihm zu fügen, seinem Willen zu unterwerfen.
Viel Raum für Lauras Entfaltung blieb da nicht mehr.
Egal, wie einfach sie gestrickt war und wie sehr sie sich von ihren Eltern und verlogenen Gutmenschen beeinflussen ließ, so verfügte sie dennoch über ein eigenes Ich, das nicht einfach so erdrückt werden wollte. Sie war mit Marco schon lange zusammen, musste seine Eigenheiten und seine grauenvolle Art also kennen. Warum Laura bei einem blieb, der sie herumschubste, sie als sein Eigentum betrachtete, stellte für mich ein Rätsel dar.
War es Abhängigkeit? Hatte ihr Vater die Verbindung gut geheißen und zwang seine Tochter dazu, bei Marco zu bleiben?
Was auch immer, es sollte nicht mein Problem sein. Dennoch kotzte es mich einfach an. Es störte mich. Leute von Marcos Schlag hatten niemanden an der Seite verdient.
„Jetzt sieh dir diese Schlampen an“, murmelte er, die Stimme voller Abscheu.
Seine Aufmerksamkeit hatte ein neues Ziel gefunden. Vorerst war ich aus der Schusslinie. Er brauchte nun einen Menschen, der ihm zuhörte, dabei die Hasstiraden jedoch unkommentiert ließ. Das hätte er auch bei seinen anderen Freunden haben können, doch tief drinnen spürte Marco, dass er sich jetzt mit einem echten Menschen mit echten Gefühlen unterhalten musste.
„Weiber! Diese ganze Emanzipationsscheisse. Damit hat man uns Männer doch richtig kastriert, oder? Die Eier hat man uns abgeschnitten mit diesem Mist. Früher hatte es mal klare Regeln gegeben: Der Mann stand oben, die Frau auf Blashöhe unter ihm. Immer! Da gab es keine Diskussionen, keine Widerreden. Da wurde gehorcht. Verdammte Emanzipationsscheisse.“
Marco erwartete keine Antwort. Es genügte ihm, mein Schweigen als Zustimmung zu werten. Man hatte Marcos Meinung zu vertreten – keine anderen Optionen verfügbar.
„Soll sie sich doch verpissen. Wenn ich heute Abend in der Disco bin, kann ich ein ganzes Dutzend von ihrer Sorte abschleppen. Und weißt du was, Roddy? Weißt du was? Genau das werde ich auch machen. Ein ordentlicher Fick. Ja, das muss auch mal wieder sein. Mit Laura läuft es sowieso nicht mehr so gut.“
In der Redepause nippte Marco an seinem Cocktail. Zeichneten sich da etwa Denkfalten auf seiner Stirn ab? Ich wusste es nicht, ging aber davon aus, dass im Speicher meines strategischen Freundes Ereignisse hervorgekramt wurden, die besser verschollen geblieben wären.
„Weißt du, was die vorhat?“
Und schon hatte der Bankmensch etwas Störendes an Laura entdeckt. Einer der üblichen Nervfaktoren, der zwischen den beiden nie zur Aussprache gekommen war.
Viele Paare unterhielten sich gar nicht mehr miteinander. Es wurde zwar geredet – wenn überhaupt –, aber zu wichtigen Problemen wurde geschwiegen. Man wollte entweder den anderen nicht damit belasten oder es gehörte sich im 21. Jahrhundert nicht mehr, gemeinsam Lösungen zu finden. Alles war schnelllebig geworden, warum dann nicht auch die Beziehungen der Menschen untereinander? Schon dieses eine bescheuerte Wort „Lebensabschnittsgefährte“ deutete doch bereits darauf hin, dass man sich gar nicht wirklich binden wollte.
Frei sein. So hieß die Devise. Nur unterlagen all diese Leute dem Irrtum, dass sie sich mit ihrem Freiheitswahn in ein ganz anderes Gefängnis einlieferten.
In Wahrheit glaubte ich gar nicht an eine tatsächliche Freiheit. Alles unterlag irgendeinem Zwang. So oder so. Totale Freiheit konnte es schon biologisch gesehen gar nicht geben.
Und zuletzt unterlagen wir alle wohl auch dem physikalischen Zwang der Erdanziehungskraft. Es gab nur bedingte Freiheiten, keine vollständigen.
„Die will heiraten und Kinder kriegen. Kannst du dir das vorstellen? Kinder. Ich bin doch noch gar nicht so alt und spießig bin ich schon gar nicht. Meinen Spaß will ich haben. Meinen Spaß – keine scheiß Kinder.“
Spießig? Er möchte nicht spießig sein? Unwillkürlich musste ich leicht grinsen. Marco war der Inbegriff eines biederen Vorzeigeschwiegersohnes. Er verkörperte nicht nur irgendeinen Spießer. Nein, Marco war „THE Spießer“ schlechthin.
Wider jedweder Vernunft fing ich an zu sprechen: „Vielleicht solltest du mit ihr reden. Ihr seid doch erwachsen und solche Missverständnisse lassen sich leicht in einem vernünftigen Gespräch klären.“
Satan höchstpersönlich, wenn es ihn denn geben würde, hätte mir kein hasserfüllteres Funkeln der Augen präsentieren können als Marco es nach meinen Ausführungen tat. Mit seinen gefletschten Zähnen glich er einem tollwütigen Wolf.
Nein, keinem Wolf. Er ähnelte einer Hyäne.
In Form kleiner Speicheltröpfchen, die jedes seiner Worte begleiteten und mich zielsicher trafen, ließ mich Marco seinen Zorn spüren: „Du ... du mieses, hinterhältiges Schwein. Du verteidigst diese bescheuerte Schlampe auch noch, fällst mir in den Rücken ... nach allem, was ich für dich getan habe ...“
Blieb nur die Frage, was er denn je wirklich für mich getan hatte.
Spontan fiel mir nichts anderes als seine stressigen Besuche ein, das Aufdrängen seiner Lebensphilosophie und den Vorhaltungen, die ich mir ständig anhören musste. Gut, durch sein Mitwirken war mir ein Überbrückungskredit gewährt worden, nachdem eine hohe Forderung gegenüber einem meiner Kunden ausgeblieben war. Diesen Kredit hatte ich einen Monat später komplett tilgen können und vermutlich hätte es auch ohne Marcos „Strippen ziehen“ geklappt.
„Du setzt gerade unsere Freundschaft aufs Spiel“, polterte er weiter. „Überlege dir ganz genau, wem gegenüber du loyal sein willst. Und jetzt lass mich besser allein, bevor ich ausflippe. Vielleicht vergesse ich deinen Verrat ja, du Friedhofsfetischist. Hau ab, Mensch. Geh doch zu deinen Satansfreunden.“
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen.
Endlich aus den Fängen des allmächtigen Marcos befreit, erhob ich mich und ging.
Wortlos.
Hinter mir murmelte er noch etwas von „Gruftieschwein“, „Leichenfledderer“ und „Vollarsch“, aber daran hatte ich mich längst gewöhnt.
Mich störten Beleidigungen nicht. Diese Friedhofstheorie schien mich aber zu verfolgen. Das hörten Leute meines Schlages ihr Leben lang. Irgendwann sollte ich doch einmal nachts auf den Gottesackern umherstreunern, nur um zu erfahren, was Menschen, die meine Lebensweise verurteilten, damit meinten. An diesem Mysterium musste doch etwas dran sein.
Ob in der Nacht Grabsteine eine berauschende Wirkung hatten?
Eines Tages, in ferner Zukunft, wenn ich von unerträglicher Langeweile heimgesucht wurde oder mein PC kaputt sein sollte, konnte ich das Geheimnis ja lüften. Zuweilen gründeten Vorurteile auf einer wahren Begebenheit.
Bis dahin lebte ich in der Welt, die mir gefiel, in der ich mich einigermaßen sicher fühlte ... und die lag gewiss nicht auf einem Friedhof.
31.01.2010
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Der Rückweg durch die Stadt führte mich an einigen dümmlich dreinschauenden Passanten vorbei, die es einfach nicht ertragen konnten, dass es Menschen gab, die ihr schwarzes Seelenleben gern in Form der Kleidung zum Ausdruck brachten. Meist wurde ich nicht beachtet, da die schwarze Szene in der Gegend relativ präsent war. Nur hin und wieder ergötzte man sich an meiner Erscheinung, machte hinter vorgehaltener Hand einige abfällige Bemerkungen oder kicherte.
Wie armselig das Leben für manch einen doch sein musste.
Nun kam die Innenstadt, mit all ihren Eiskaffees und Kneipen. Draußen saßen sie als Legion der einfachen Gemüter, unterhielten sich über belanglose Themen, soffen und veranstalteten ein Höllenspektakel. Diese Orte mied ich, wenn es sich einrichten ließ. Auf ihre Blicke in meinem Rücken, die mir Gänsehaut verursachten, konnte ich gut und gerne verzichten.
Sergej machte sich zuweilen über meine Paranoia lustig. Oft sagte er mir, es sei alles nur Einbildung, kein Mensch würde mich wirklich beachten. Dabei wusste ich, dass es anders war.
Verdammt noch mal, ich spürte doch ihre Augen, wie sie mich musterten, hörte fast schon ihre Gedanken, wie sie mich abschätzten und das Ergebnis in ihrem geistigen Ordner mit der Aufschrift „nicht gesellschaftsfähig“ ablegten.
Sie starrten nicht zu den Punks, die sich rund um den Brunnen versammelt hatten, interessierten sich nicht für grölende Metalfans in Kutten oder für eine Gruppe schon am frühen Abend besoffener Studenten, die kreischend durch die Gegend zogen.
Nein, ihr gesamtes Interesse galt dem hageren Typen mit Glatze und brustlangem Kinnbart, der schwarz trug und sogar im Sommer in einen langen Mantel gehüllt war. Allein dieses schüchterne Wesen, dessen Augen mehr den Asphalt bewunderten als alles andere, dessen Gesicht bleich und krank wirkte, dessen Lippen aus reiner Angst fest zusammengepresst waren und dessen dünne Spinnenfinger unablässig in den Taschen nach etwas zu suchen schienen war ihrer eingehenden Betrachtung würdig.
Sie projizierten ihre Abneigung gegen alles Andersartige auf mich, ließen mich ihre Voreingenommenheit mit jeder Faser fühlen. Wenn sie könnten und dürften, würden mich diese ach-so-braven Bürger auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Als Warnung für all jene, die sich gegen die Norm stellten, die nicht mit dem Strom schwammen.
Ein Spießrutenlauf, den ich mir hin und wieder gönnte. In mir musste ein kleiner Masochist verborgen sein.
Du musst nicht glauben, du seist der Nabel der Welt. Nicht alles dreht sich nur um dich.
Die Worte meines Vaters erinnerten mich daran, dass alles auch nur Einbildung sein konnte, dass Sergej gar nicht mal so daneben lag, wenn er mir Verfolgungswahn unterstellte.
Plötzlich drängten Erinnerungen an die Oberfläche. Erinnerungen an einen ehemals stolzen und gutmütigen Mann, den der Alkohol in ein dahinsiechendes Elend verwandelt hatte.
Diese Veränderung war schleichend gekommen, über Jahre hinweg. Zuerst war es das allabendliche Bier gewesen um die Last des Tages aus sich herauszuspülen. Mit größeren Lasten kam stärkerer Alkohol. Ein Schnaps zum Bier, zwei Schnäpse, dann nur noch Whisky und Cognac. Kein billiger Fusel, nein, mein Vater hatte seinen Verfall in eine Art würdevolles Ritual verwandelt.
Er musste gewusst haben, wohin das alles führen würde und hatte wohl mit Eleganz abtreten wollen. Der Leber war es am Ende egal gewesen, woran sie verendete, sie hatte schließlich nur ihre Ruhe haben wollen.
Und die hatte sie nun.
Eines Tages hatte man ihn vom Unterricht befreit, ihn in den Vorruhestand geschickt. Von da an war es rasend schnell voran geschritten. Aus meinem Vater wurde zuerst eine ständig müde Labertasche. Von diesem und jenem war die Rede gewesen, er hatte zu allen Dingen etwas zu sagen gehabt, nur nichts Gehaltvolles. Sinnloses Gebrabbel eines Menschen, dessen Gehirn längst den Geist verbannt und durch alkoholisierte Sichtweisen ersetzt hatte.
Und am Ende? Was war am Ende geblieben?
Nur die Erinnerung an ein menschliches Wrack, an die Fleisch gewordene Titanic in der eigenen Familie, die an einer Schnapsflasche zerschellt war.
Mutter sprach nicht über ihn, hatte ihn sozusagen aus ihrem Leben vollständig gelöscht. Es gab keine Fotos mehr, keine Erinnerungsstücke. Restlos alles war nach Vaters Tod aus ihrem Leben verschwunden – inklusive meiner Person.
Sie hatte mich bereitwillig der Vergessenheit übergeben und meldete sich nur noch an Feiertagen und jährlich an meinem Geburtstag gab es eine E-Mail. Lästige Pflichten, die man rasch hinter sich brachte. Zum Glück gab es heute das Internet. Schnell, schmerzlos, meist zuverlässig.
Da der Wortlaut ihrer Mails stets gleich war, vermutete ich, dass sie den Text abgespeichert hatte und ihn jedes Jahr einfach recycelte. So musste sie nicht darüber nachdenken, was sie mir schreiben sollte.
Alles Liebe und Gute zum Geburtstag. Lass es dir gut gehen und pass auf dich auf. Mir geht es super, ich hoffe, dir auch.
In Liebe
Mama
Das war's. Knapp, präzise, dem Tag entsprechend. Mit diesem leichten Anflug einer Bitte, sie keinesfalls mit Anrufen oder Besuchen zu belästigen. Immerhin ging es ihr ja super. Viel mehr als gut. Das Ende der Fahnenstange. Darüber hinaus gab es nur noch fantastisch, aber das wäre übertrieben gewesen und könnte mich dazu veranlassen, nachzufragen.
Schlimme Vorstellung für sie, denn immerhin war ich der Sohn aus einem alten Leben, den sie mit einem Phantom zusammen produziert hatte. Ein Phantom für sie, nicht für mich.
Vor mir erstreckte sich nun die Meile der Lebenslustigen. Sie schlenderten, lachten und hatten ihren Spaß. Übrigens die Art von Spaß, mit der ich nichts anzufangen wusste. Mir fehlte schlicht der Zugang zu dieser Lichtfresserwelt, in der restlos alles von einem Regenbogen geküsst wurde. Der Zwang der halb vollen Flasche.
In meiner Flasche sah ich nur den kläglichen Rest der menschlichen Zivilisation und einer Zukunft, die für unsere Spezies gar nicht gemacht war. Nicht dauerhaft zumindest.
Umweltaktivisten, Politiker mit einem letzten Funken Anstand und etliche Normalbürger schwenkten in trauter Einigkeit ihre halb vollen Flaschen und mahnten gleichzeitig, dass es fünf vor zwölf wäre.
Seit Jahrzehnten war es fünf vor zwölf. Irgend jemand sollte einmal die Uhr aufziehen, da sie offensichtlich stehen geblieben war.
Durch eben diese Menge bahnte ich mir meinen Weg zu einem kleinen Supermarkt. Ein paar Süßigkeiten und einige Flaschen Cola mit Kirschgeschmack sollten fürs Wochenende genügen. Daheim hatte ich noch genügend Lebensmittel, nur eben kaum noch die Freude bringenden Zuckerlieferanten. Eine Stange Zigaretten musste auch mit, sonst musste ich wieder mitten in der Nacht zum Automaten oder zur Tankstelle. Undenkbar. Nein, wenn ich später wieder meine Wohnung betrat und die Tür hinter mir ins Schloss fiel, sollte sie auch geschlossen bleiben.
Niemand kam dann mehr hinein und ich wollte ganz sicher nicht wieder hinaus. Der Rest des Samstags musste mit allen Mitteln verteidigt und genossen werden.
Kaum hatte ich den Laden betreten, brauchte ich eine Weile, um mich in der schrillen Umgebung zu orientieren. Werbung hier, Anpreisungen dort, Mütter mit kreischenden Kindern da. Alles, wie es sich gehörte.
Und mittendrin der schwarze Mann, der verzweifelt nach den richtigen Regalen Ausschau hielt.
Wagemutig stürzte ich mich ins Abenteuer. Hinein in das psychologisch ausgeklügelte Labyrinth aus Verpackungen der verschiedensten Art. Kartons, Gläser, Dosen. Alles stand in Reih und Glied, präsentierte sich mit bunten Schriftzügen und aufdringlichen Farben.
Zuweilen schien es mir als könnte ich die Produkte rufen hören: „Kauf mich! Du brauchst mich! Du willst mich!“
Eine wahre Prostitution der Verbrauchsgüter.
Ich dachte an meine Kindheit. Damals wurde der Käufer umworben, man schmeichelte ihm und allgegenwärtig war dieses Flüstern: „Meinst du nicht, du könntest mich einmal versuchen? Nur zu, ich bin ganz dein, wenn du es möchtest.“
Heute wurde einem ins Ohr geschrien. Aus dem „Bedienen Sie sich bitte“ wurde ein „Los! Kauf mich! Jetzt!“. Die Probepackung war der Massenvernichtungswaffe „Family Pack + 1 gratis“ gewichen und statt eines freundlichen Lächelns, das einem von den Werbebannern geschenkt wurde, sah man nur noch fieses Grinsen und bedrohliche Gesten. Frau Antje hatte ihre holländische Tracht längst gegen die mit Stacheln bewährte Plattenrüstung einer kampfgeilen Amazone eingetauscht.
Wer sich nicht die Mühe machte, genau hinzusehen um das Heute mit dem Gestern zu vergleichen, dem fiel wohl nur am Rande eine kleine Änderung auf. Industrie und Wirtschaft bauten darauf, dass sich die von Angeboten übersättigten Menschen entweder auf die Aggressivität einließen oder sie aber schlicht ignorierten.
Heldenhaft war es sicher nicht, wie ich durch die Gänge schlich, vorbei an Verlockungen, denen zu widerstehen mir oft genug schwerfiel. Wer mich so sah, dachte wohl mehr an einen „Drogensüchtigen“. So, wie diese junge Mutter, die solche Worte ihrer Freundin zuflüsterte, während sie mich beide heimlich aus den Augenwinkeln heraus beobachteten. Harmloser war da die Bezeichnung „Spinner“, den mir gegenüber ein Teengirl mit obligatorischem Sara-Kuttner-Gedächtnisseitenscheitel laut genug äußerte als ich an ihr vorbeiging, damit ich es ja hörte. Sie und ihre Freundin verbargen ihre Abneigung nicht, wollten nicht verheimlichen, dass ich zum Objekt ihrer guten Laune geworden war. Sie tuschelten hörbar, tauschten gegenseitig Weisheiten über Grufties aus, die nur sie allein zu kennen schienen.
Musste so sein, denn die mir bekannten Grufties hatten mit diesen Horrorgestalten, die von den Teens so bildhaft beschrieben wurden, nichts zu tun. Und wieder offenbarte man mir den unumstößlichen Glauben, dass wir alle auf Friedhöfen zu finden seien. Das obligatorische Mysterium durfte auf gar keinen Fall fehlen.
Nichts hielt sich besser frisch als fadenscheinige Behauptungen und wilde Gerüchte. Da konnte die verpackte Wurst im Kühlregal mit all ihren Konservierungsstoffen nicht mithalten.
So waren sie, die Wahrheiten in den Köpfen derer, die sich für alles zu schade waren, nur nicht für die graue Masse. Punks waren asozial, Heavy-Metal-Fans grundsätzlich besoffen und Gothics hausten eben auf Friedhöfen.
Getreu der guten Pipi Langstrumpf: Ich male mir die Welt, so wie sie mir gefällt.
Pipis Witz und Mut suchte man bei den Leuten aber leider vergeblich. Ach ja, über Langstrumpfs Phantasie verfügten sie auch nicht, ganz nebenbei bemerkt.
Als die Mädchen damit begannen, durch ihre albernen Sprüche meine ganze Familie in den Dreck zu ziehen, platzte mir schließlich der Kragen. Sie konnten ja über meine Person lästern, aber sie sollten zumindest soviel Anstand aufbringen, meine Eltern aus dem Spiel zu lassen. Gut, mein Vater hatte sich zu Tode gesoffen und Mama war zu einer Fremden geworden, aber beide hatten mir eine tolle Kindheit beschert.
Niemand durfte sie ungestraft durch den Dreck ziehen.
So fixierte ich die beiden Girlies, atmete einmal tief ein und – strafte sie mit Missachtung, indem ich rasch an ihnen vorbei eilte.
Um meine Feigheit rasch zu verdrängen und dem Spott nicht noch mehr ausgesetzt zu sein, brachte ich einige Regale zwischen mich und die ungehobelte Jugend.
Aber auch hier war ich nicht sicher vor den geklonten Teens. Dieses Mal beobachtete ich, wie sich zwei andere Exemplare, die meinen verbalen Peinigern erschreckend ähnlich sahen, über eine korpulente, junge Frau lustig machten, die verzweifelt den Versuch unternahm, das Geschnatter zu überhören.
Die dürren Gänse standen hinter der Frau und unterhielten sich kichernd über fette Ärsche, mangelnde Hygiene bei beleibten Menschen und sonstigen Schwachsinn, den sie brav nachplapperten. Da sagt einer, Talkshows hätten keinen Lerneffekt.
Immer wieder gackerten sie und genossen es, dass sich ihr Opfer von einer Sekunde zur anderen schlechter fühlte. Sie wollten es wohl auf die Spitze treiben und die junge Frau dazu bringen, die Fassung zu verlieren. Dann konnten sie offen auf sie losgehen.
Es gab einige Möglichkeiten für mich, mit dieser Situation umzugehen. Eine davon war die rasche Beschwörung meines kleinen Hausdämons namens Ignoranz. Die entsteht nicht immer durch verbohrte Denkweisen oder Überheblichkeit. Oh nein, zum besonders guten Nährboden gehörte zuweilen auch Furcht. Angst vor der Welt und den Menschenwesen, die sie überrannt hatten. Aber das war nicht meine Art. Mir gingen die meisten Leute ohnehin auf die Nerven und diese Geier standen ganz oben auf meiner Liste. Irgend etwas musste ich unternehmen.
Bevor die Situation eskalieren konnte, fasste ich all meinen Mut zusammen und gesellte mich einfach zu der jungen Frau, sprach sie an: „Hallo, entschuldigen Sie bitte.“
Sie sah mich an und wusste nicht so recht, ob ich zu den Feinden oder den Verbündeten gehörte. Aufgrund meiner Gestalt hielt sie mich wohl für einen, der ihr noch mehr zusetzen wollte und schleuderte mir in unfreundlichem Ton: „Was ist?“ entgegen. Niemand, der bei Verstand war, konnte ihr das verübeln. Eine typische Abwehrhaltung um weiteren seelischen Schmerz bereits im Keim zu ersticken.
Umso erstaunter zeigte sie sich als ich damit anfing, über die beiden Teens herzuziehen.
Mit einem offenen Blick zu den beiden Lästermäulern fragte ich: „Sagen Sie, bei den vielen Rattengesichtern um uns herum müsste doch das Nagetierfutter ganz in der Nähe sein, oder?“
Noch zeigte sich die junge Frau skeptisch und beäugte mich weiterhin mit großer Vorsicht. Die beiden Teens hatten diese Anspielung aber durchaus verstanden und waren verstummt, zeigten ihre säuerlich – und dümmlich – dreinblickenden Gesichter und schwiegen erst einmal. Ins Schwarze hatte ich ohnehin getroffen, da die Mädchen über äußerst stark entwickelte Schneidezähne verfügten und das ganz genau wussten. Sie kannten ihre Makel, versuchten jedoch, all das zu vertuschen.
„Ach, wissen Sie“, fuhr ich fort, „es ist schrecklich, dass noch immer Kosmetik an Ratten ausprobiert wird. Manche sehen mit ihrem dick aufgetragenen Lippenstift und dem Inhalt ganzer Schminktöpfe in den Nagergesichtern aus wie Nutten mit Fell. Nur hat man ihnen selbst dieses Fell abrasiert, damit sie Mensch spielen können.“
Endlich erkannten alle, was ich da tat. Die junge Frau grinste, die dämlichen Fratzen der Mädchen zeigten geistige Leere und eine von ihnen krächzte: „Du scheiß Gruftie. Geh doch auf den Friedhof und mach's den Leichen.“
Ich schüttelte mich kurz als müsste ich den ganzen Ekel loswerden von einem nackten, menschenähnlichen Nager angesprochen zu werden und meinte beiläufig: „Tja, liebend gern, mit denen kann man sich zumindest besser unterhalten. Ein verwesendes Hirn ist immer noch besser bestückt als die Ödnis in manch lebendig erscheinendem Schädel.“
„Hä? Was soll'n das? Bist du'n Psycho?“
Jetzt wurde es höchste Zeit zum letzten Stoß, bevor mich mein Mut wieder verließ. Ich sog die Luft durch meine Zähne, riss die Augen auf und ging sehr langsam auf die Girlies zu, die sich mehr als unwohl fühlten.
„Man hat mich als geheilt erklärt und entlassen. Aber Satan weiß, dass ich ihm immer treu geblieben bin.“
„Scheiße, komm, der hat sie doch nicht mehr alle. Beschissener Satansdepp“, rief die andere und zerrte ihre Freundin mit sich. Nach einigen Schritten stießen sie gegen ein Regal mit Gurkengläsern und sorgten für etwas Tumult. Aus dem Staub machen konnten sie sich nicht, da ein Angestellter längst zur Stelle war und den Mädchen eine gehörige Standpauke hielt.
Was weiter passierte, interessierte mich nicht. Ich wandte mich an die von mir gerettete Frau, die mir sogleich eine Frage stellte: „Sind Sie wirklich ein Satanist?“
Enttäuscht über diese Wendung der Geschichte schüttelte ich den Kopf: „Nein, bin ich nicht. Mich nervt es einfach nur, wie sich heute manche Jugendliche benehmen. Und wenn man schon mit Vorurteilen konfrontiert wird, kann man sie auch mal für sich nutzen. Es hat ja auch funktioniert.“
„Ach, egal, mich hat das Gerede von denen nicht gestört. Ich hör da schon gar nicht mehr hin.“
Sicher, dachte ich mir, das hat man gesehen. Du hast dir ü-b-e-r-h-a-u-p-t nichts daraus gemacht, dass sie sich über dich lustig gemacht haben. Wie schade, dass sie sich selbst belog und die Wirklichkeit so vehement ablehnte.
Ein kleines „Dankeschön“ wäre mir lieber gewesen oder ein Lächeln. Statt dessen bekam ich nur das Geschwätz eines weiteren Lichtfressers. Ein Schwenken mit halb voller Flasche.
Hurra!
„So, ich muss jetzt aber los“, meinte ich unbeholfen. Die junge Frau sagte nichts, lächelte nicht, nickte nicht. Sie wandte sich einfach wieder dem Regal mit Gemüsedosen zu und hatte mich wohl schon vergessen.
Schnell verschwand ich in Richtung Süßigkeiten, schnappte mir einige Packungen mit Schokoriegeln, zwei Tüten Chips, hielt bei den Getränken an für zwei Flaschen Kirsch-Coke und stand kurz darauf an der Kasse. Noch eine Stange Zigaretten, alles in eine Tüte gestopft und ab nach Hause.
Tür zu. Welt, bleib draußen und leck' mich!
Bis es soweit war, stand mir noch der Heimweg bevor. Der Supermarkt befand sich am Ende der Fußgängerzone und somit lediglich einen Block vom trauten Heim entfernt. Auf dem restlichen Weg konnte sich noch immer etwas ereignen, das mir ganz und gar nicht passen würde. Also wiegte ich mich nicht in Sicherheit, sondern blieb wachsam. Erst wenn mein Hintern auf dem Chefsessel vor dem PC geparkt war, durfte ich durchatmen.
Aber nicht zu laut, sonst wurden die versteckten Schreckgestalten meiner Anwesenheit gewahr. Damit waren die gemeint, die einen unsichtbaren Draht zu meinen Gefühlen zu haben schienen. Wie auch immer, manche Leute spürten es, wenn sich in mir gute Laune breit machte und einige von ihnen konnten das nicht zulassen.
Marco gehörte zu diesen Leuten.
Da er sich heute mit seiner Freundin gestritten hatte und mittlerweile gewaltig einen im Tee haben dürfte, war nicht auszuschließen, dass er mich ein zweites Mal an diesem Tag heimsuchte. Seinen seelischen Müll musste er ja irgendwo loswerden. Die übrigen Affen würden so tun als hörten sie ihm zu. Sie würden ihm zustimmen, ihm auf die Schulter klopfen und ihn ermutigen, noch einen zu trinken. Nur zur Sicherheit, denn Alkohol galt für viele Menschen als Allheilmittel.
Am Ende half ihm all das nicht und dann war der Zeitpunkt gekommen, an dem er sich an Roddy erinnerte. Diese schwarze Seele mit dem offenen Ohr für jedes Problem. Dieser abgewrackte Spinner, den man ohne Mühe belästigen konnte und der sich stets Zeit für einen nahm, der einem jede Beleidigung verzeihte.
Wie es mir dabei ging hatte nichts zu bedeuten. Auch nicht, dass ich meine Ruhe haben wollte.
Strategische Freunde waren mehr Fluch als sonst was. Sie ließen einen nicht in Frieden und tauchten in den unpassendsten Augenblicken auf. Nirgendwo war man vor ihnen sicher und mit ihnen brechen wollte ich nicht.
Das Ding mit dem Gewissen. Ich hätte dann das Gefühl, sie nur benutzt zu haben. Albern, denn sie benutzten mich mehr als ich je deren Dienste oder Vorteile in Anspruch genommen hatte.
Allen Befürchtungen zum Trotz hielt mich auf dem Heimweg niemand auf. Unterwegs dachte ich noch einmal darüber nach, was im Supermarkt vorgefallen war. Mit etwas zeitlichem Abstand betrachtet kam mir mein Einmischen gar nicht mehr so toll vor. Im Gegenteil, es war im Grunde sogar richtig peinlich gewesen. Die Frau, der ich beigestanden hatte, hielt mich gewiss auch für einen Psychopathen. Bestenfalls für einen angeberischen Idioten, der sich in Dinge eingemischt hatte, die ihn nichts angingen.
Damit lag sie vielleicht gar nicht so falsch. Immerhin hatte ich ihr einfach die Fähigkeit abgesprochen, sich selbst zu verteidigen. Ohne sie zu kennen war sie in meinen Augen zum hilflosen Opfer geworden.
Ich hatte diese korpulente Frau in eine Schublade gesteckt.
Solche Überlegungen nervten mich. Sie zeigten mir, dass ich nicht anders war als alle anderen Menschen auf diesem Planeten. Auch ich urteilte einfach über andere ohne weitere Hintergrundinformationen über eine Person zu haben.
In der virtuellen Welt, gerade in Chats, war das bedeutend einfacher zu handhaben. Dort erkannte man schon an Schreibweise und Themenwahl, bei dem Gehabe und dem Unterhaltungswert einer Person, wen man wohl vor sich hatte.
Klar, viele Leute versuchten sich anders zu geben als sie in Wirklichkeit waren, doch eine Maskerade konnten nur wenige über längere Zeit aufrecht erhalten.
Eine Gefahr, getäuscht zu werden, blieb selbstverständlich, aber das konnte einem in der Realität auch passieren. Für mich waren Chats eine Erleichterung. Sie gaben mir die Möglichkeit, meine Scheu vor Menschen zu überwinden, denn ich musste niemandem in die Augen sehen. Allein meine Gedanken, befreit von diesem Körper, tobten sich in der digitalen Welt aus.
Im Gegensatz zu mir als Gesamtheit durfte ich von meinen Gedanken behaupten, dass sie kein Blatt vor den virtuellen Mund nahmen. Wenn mich etwas an einer Person ankotzte, dann schrieb ich das auch. Die Stimmbänder hätten da nie und nimmer mitgemacht. Sie hätten sich verknotet und die Gedanken wieder schleunigst zurück in den Kopf gescheucht.
Wieder erinnerte ich mich an den Supermarkt und des kurzfristigen Heldenwahns, der mich überkommen hatte. So etwas verursachte mir Übelkeit. Zum Glück hatte der Adrenalinstoß, wo immer er auch hergekommen war, verhindert, dass ich noch an Ort und Stelle den Mageninhalt über Kaufhausfliesen verteilt hätte.
Virtuelle Welt, du bist ein zweites Zuhause.
Genau das brauchte ich. Einen Ort, an dem ich mich geistig austoben konnte. Einen Platz, an dem ich Gleichgesinnte vorfand, die oftmals ebenso ungern nach draußen gingen. Und solche, die sich in beiden Welten wohl fühlten, mich aber so akzeptierten, wie ich war.
Zuweilen fragte ich mich, ob nicht diese Chatbekanntschaften zu den echten Freunden gehörten, auch wenn ich sie nie im wirklichen Leben getroffen, geschweige denn mit ihnen tatsächlich geredet hätte.
Auf alle Fälle hatten die Stammchatter etwas mit mir gemeinsam: Sie liebten es, schreibend mit anderen zu kommunizieren und vermieden unbequeme Begegnungen. Wer einem nicht passte und dennoch nervte, wurde einfach ignoriert. Schon war die Sache erledigt.
Wie gerne würde ich Marco auf eine Ignore-Liste setzen, ihn einfach aus meinem Leben ausblenden. Mit ihm noch so einige andere Personen, aber so einfach ging das nicht.
Nein, echte Marcos ließen sich nicht unsicht- und unhörbar machen. Sie waren da, in Fleisch und Blut, rückten einem auf die Pelle.
Die einzige legale Möglichkeit, auf natürlichem Weg eine Art Ignore zu setzen, war das Abstellen der Türklingel und des Telefons. Beides würde ich in die Tat umsetzen, sobald ich daheim war.
Für heute genügte die Portion echtes Leben vollauf. Höchste Zeit für das Eintauchen in die virtuelle Wirklichkeit.
Kapitel 3
Alles stand bereit für einen angenehmen Abend. Chips, Cola, Süßkram und Zigaretten warteten darauf, von mir in gebührender Weise beachtet und konsumiert zu werden. Damit kein anderes Geräusch mich aus meinem kleinen Universum reißen konnte – ich dachte dabei an ein wildes Hämmern an der Wohnungstür, da die Klingel ja keinen Ton von sich gab –, schmiegten sich Kopfhörer an meine Ohren.
Zuerst versank ich ein wenig in den wundervollen Melodien von Deine Lakaien, danach folgte eines der Wolfsheim-Alben. Um aber nicht gänzlich in Träumen zu versinken hatte ich als dritte Gruppe The Birthday Massacre in die Wiedergabeliste eingefügt. Das sollte mich wieder wach machen, wenn die Augen trübe wurden.
E-Mails wurden gesichtet. Der übliche Kram: Werbung, Geburtstagsglückwünsche von Bekannten und Verwandten, ein Kunde, der um Zahlungsaufschub bat und ein weiterer Kunde, der einen neuen Auftrag für mich hatte.
Frühestens am Sonntagabend interessierten mich die Geschäfte. Bis dahin konnte alles warten. Diesen freien Samstag hatte ich mir verdient, es war der erste seit über einem Monat.
Wer sein Hobby zu seinem Beruf machte, lief hin und wieder Gefahr, nicht mehr mit der Arbeit aufhören zu können. Psychologisch gesehen musste das jedoch sein. Selbst wenn ich es zur Zeit nicht als tatsächliche Belastung empfand, eines Tages würden sich Körper und Geist dafür rächen.
Nun war es an der Zeit, den Chat zu besuchen, in dem sich meinesgleichen tummelte. Die Auswahl im Netz war riesig und es hatte einige Seiten gegeben, die ich ausprobiert hatte. Von den vielen Möglichkeiten war ich vor zwei Jahren beim Dunkelheim-Chat hängen geblieben.
Der Seitenbetreiber gehörte zu den echten schwarzen Seelen, aber er nahm sich und die Szene nicht immer allzu ernst. So setzte sich die Klientel auch aus den verschiedensten Gattungen der düsteren Spielart zusammen.
Reichhaltige Auswahl. Abgesehen davon wurde der Chat selbst von Moderatoren begleitet, die alles im Rahmen hielten. Pöbeleien wurden nur bedingt geduldet, Beleidigungen gar nicht. Zu eben diesen Mods durfte auch ich mich zählen. Zu tun gab es nicht gerade viel, da sich die meisten User an die Chatregeln hielten. Nur hin und wieder gab es einige Idioten, die sich wohl in unangenehmer Weise profilieren mussten.
Je nachdem, welche Mods online waren, wurden die Störer ein wenig veralbert und irgendwann, wenn das Spielchen mit ihnen langweilig wurde, beseitigt.
Klick. Weg.
Ja, diese Welt war einfach in der Handhabung.
Zugegeben, es wäre nicht gut, wenn sich die natürliche Realität genauso simpel beeinflussen ließe. An manchen Tagen wünschte ich mir das, aber um ehrlich zu mir selbst zu sein wäre es fatal. Wenn ein virtuelles Ich verbannt oder ausgelöscht wurde, machte das dem Menschen an der Tastatur nicht wirklich etwas aus. Gut, vielleicht war es ärgerlich, das Ego etwas gekränkt, aber niemand kam dabei tatsächlich zu Schaden.
Die Menschheit an sich erschien mir befremdlich, trotzdem wollte ich nicht, dass jemandem weh getan wurde. Nicht einmal denen, die ich auf den Tod nicht ausstehen konnte. Unter den selbst ernannten Misanthropen war ich derjenige, der das, was er ablehnte, gleichzeitig akzeptierte und irgendwie auch brauchte.
Sonderlich viele Chatter hatten sich nicht gerade eingefunden. Kein Wunder, samstags gab es andere Dinge, mit denen sich die meisten Leute beschäftigten. Der Großteil traf sich mit Freunden und ging aus, besuchte Clubs oder Konzerte. Oder man feierte private Partys.
Nach der typischen Begrüßung derer, die ich kannte, wartete ich erst einmal ab. Keine interessanten Themen. Hier und da wurde herumgeblödelt. Zwei Chatter stritten über die neuesten Grafikkarten und keiner der beiden brachte auch nur ein vernünftiges Argument zustande. Dennoch glaubte jeder von sich, die Weisheit löffelweise gefressen zu haben.
Aus purer Langeweile entschied ich, dass ein kleines Game wohl besser wäre als im Chat abzuhängen. In der Nacht mochte es ein wenig belebter sein.
Bevor ich mich ausloggte, meldete sich jemand zu Wort, den ich zuvor noch nicht im Dunkelheimchat gesehen hatte: „Ähm, bevor man sich über Grafikkarten streitet, sollte man sich vielleicht selbst einmal informieren. Nur mal so als Tipp gedacht.“
Begleitet wurde der Text mit einem zwinkernden Smiley.
Unwillkürlich musste ich grinsen und klickte auf den Nick. So gelangte jeder auf die Profilseite eines Chatters.
Das Bild einer jungen Frau mit rötlichen Haaren erschien. Sie hatte ein freches Lächeln aufgesetzt und posierte auf einem Bett wie eine Rockgitarristin, wobei sie statt einer Gitarre eine Flasche Cola in den Händen hielt. Im Hintergrund waren einige Poster zu erkennen und der Teil eines Regals, auf dem sich allerhand Gerümpel angesammelt hatte.
Wenn man von den Äußerlichkeiten ausgehen durfte, handelte es sich bei ihr um eine Person, die nichts allzu ernst nahm. Und mit ihrem Kommentar von eben wirkte Sunset, so der Nick, frech, doch nicht bösartig.
In den restlichen Feldern standen einige Lieblingsbands, von denen mir selbst etliche zusagten, die obligatorischen Filme, Tiere und sonstigen Sachen, die einem am Herzen lagen und am Ende der „Über mich“-Text. Dort stand, was man sonst noch loswerden wollte, damit einen die anderen Chatter ein wenig einschätzen konnten.
Meiner Erfahrung nach waren viele der Antworten einfach nur aus der Luft gegriffen. Manche versuchten mit aller Gewalt, sich interessant zu machen. Albern.
Sunset hingegen hatte nur einen Satz in das Feld geschrieben: Wenn du mich kennenlernen möchtest, solltest du dich zuerst selbst kennen.
Oberflächlich betrachtet nur eine weitere nutzlose Weisheit. Sah man die Gesamtheit dieser Person, die mich irgendwie an einen Schelm erinnerte, brachte einen dieser Satz zum Nachdenken.
Gar nicht so dumm. Lerne dich erst mal selbst kennen, bevor du andere zumüllst. Meistens kannten sich die Leute doch gar nicht. Sie glaubten nur, alles über sich zu wissen und waren immer wieder aufs Neue erstaunt, wenn Gefühle und Ereignisse in ihr Leben platzten, mit denen sie nicht zurecht kamen.
Ich fragte mich, inwiefern ich mich kannte. Wirklich kannte.
20.11.2011
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