Sven Späters Wortgrotte
 
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Das verschwundene Volk (Märchen)

Es war einmal, vor gar nicht allzu langer Zeit, da plagten einen einfältigen König schwere Gedanken. Seine Botschafter berichteten ihm immer wieder, dass das Volk die Arbeit scheuen und nur von Almosen aus der königlichen Schatzkammer leben würde. Dem König missfiel diese Kunde, denn er hielt sich für gutherzig und gönnerhaft. Nun musste er feststellen, dass seine Untertanen ihn ausnutzten. So durfte es nicht weitergehen.

Er rief seine Berater zu sich, die zwar viele Ideen hatten, wie den Faulpelzen beizukommen wäre, doch gingen ihm die Vorschläge nicht weit genug.

Nein“, sagte er zu seinen Beratern, „ich darf nicht mehr gerecht sein, wenn mir so übel begegnet wird. Das Volk soll meinen Zorn zu spüren bekommen, denn ein König, zudem einer, der immer gerne gegeben hat, soll geehrt und geachtet werden. Ich brauche einen Berater, der nicht im Palast lebt. Einen, der meine Untertanen ganz genau kennt.“

Einer der Berater meinte jedoch: „Aber Herr, Diebe gab es schon immer. Der Großteil des Volkes hält Euch die Treue, auch wenn es arm ist. Ihr könnt doch nicht alle bestrafen, nur weil es einige Gauner darunter gibt.“

Auf den Einwand des Mannes hörte der König nicht. Lieber ließ er alle büßen. So konnte er sicher sein, dass es auch jene traf, die ihm wirklich das Geld auf unredliche Weise aus den Taschen raubten. Zur Not konnte es die Ehrlichen noch ehrlicher machen.

Nun begab es sich, dass ein reicher Edelmann, der den Namen Peter Hartherz trug, von den Absichten des Königs erfuhr. Also machte er sich auf und bat um eine Audienz.

Im Kreise seiner Berater hörte der König von den Plänen, die sich Hartherz ausgedacht hatte um die Untertanen wieder dazu zu bewegen, für ihren König zu arbeiten, statt faul im Reich zu lungern und auf Freigiebigkeit zu bauen.

Herr, so hört meinen Plan. Ihr müsst dafür Sorge tragen, dass den Bürgern nur mehr so viele Gulden zukommen, dass sie gerade nicht verhungern. Nehmt ihnen die Freiheit und setzt eine Wachmannschaft und Beamte ein, die jeden faulen Untertanen bespitzeln. Verbietet dem Volk, etwas zu besitzen und lasst alle, auch die Kinder, darben. Dann wird sich Euer Volk bald besinnen und Euch unterwürfig sein.“

Mit diesem Vorhaben waren der König und seine Berater sehr zufrieden. Nur ein Mann, der schon zuvor seine Bedenken an das Ohr des Königs getragen hatte, bemerkte auch dieses Mal:

Aber Herr, Ihr könnt den Menschen doch nicht alles nehmen und sie bewachen lassen als seien es alle Räuber und von schlechtem Denken. Der edle Peter Hartherz ist reich, er weiß nicht, wie schlecht das Leben auch zu anständigen Leuten sein kann. Sorgt lieber dafür, dass es mehr zu tun gibt, dann werden sich die Menschen auch gerne wieder der Arbeit hingeben. Bestraft nur die, die Euch wirklich ausnutzen oder lasst sie einfach gewähren, denn von denen gibt es nicht viele.“

Unsinn“, mischte sich Peter Hartherz ein. „Die sind alle faul und wissen die Güte des Königs nicht zu schätzen. Man muss ihnen nur zeigen, wer in diesem Königreich der Herr ist.“

Den Berater, der die Pläne des Edelmannes als schlecht und gemein empfand, plagte nun sein Gewissen. Nicht länger wollte er an einem Hofe bleiben, wenn die Augen für die Wahrheit verschlossen blieben und auf Berichte von schändlichen Boten gehört wurde, die nur darauf aus waren, alles Schlechte noch schlimmer erscheinen zu lassen. Doch durfte er nicht einfach gehen und das Volk einem einfältigen König, seinen nicht minder einfältigen Beratern und dem Edelmann Peter Hartherz überlassen. Dennoch verließ er den Hof und begab sich auf eine lange Reise. Er musste überlegen, wie dem Volk geholfen werden konnte.

Mit dem neuen Erlass veränderte sich das Königreich. Die Untertanen litten schrecklich unter ihrem König, waren wütend darüber, dass er sie so hart dafür bestrafte, dass manche von ihnen kein Glück hatten und sehr wenige tatsächlich unehrlich waren. Manch einer, der nichts Böses je getan hatte, dachte darüber nach, nun den König wirklich zu berauben. Andere verließ einfach der Mut. Die neuen Beamten verfolgten einen jeden ohne Erbarmen. Nicht ein Untertan wurde verschont, war er noch so redlich in seinem ganzen Leben gewesen.

Wenn der ehemalige Berater durch Dörfer und Städte ritt, wurde ihm von vielen Menschen ihr Leid geklagt.

Hört, edler Herr, wir wissen nicht mehr ein, noch aus. Man nimmt uns nicht allein unser Leben. Nein, der König nimmt uns auch unsere Würde. Was können wir tun?“

Auf den Straßen sah er Kinder, gekleidet in Lumpen. Väter und Mütter, die nur mehr versuchten, ihren letzten Rest Leben zu retten. Einsame Menschen, die alles verloren hatten, obwohl sie nie ein Unrecht taten.

Die Jahre schritten dahin und mit der Armut kam es auch dazu, dass bei Bäckern und Schneidern nichts mehr gekauft wurde, dass Handwerker keinen Handschlag mehr verrichten konnten, weil nur wenige sie noch bezahlen konnten. Händler verließen das Land, denn hier gab es keine Gulden mehr zu verdienen. Ihnen folgten bald die Handwerker.

Peter Hartherz machte sich unterdessen ein schönes Leben, sonnte sich im Glanz, den der König ihm verliehen hatte. Niemand am Hofe wäre je auf die Idee gekommen, dass eben dieser Edelmann selbst den König seit jeher betrogen hatte.

Eines Tages kam ein Mann zum Schloss und verlangte Einlass. Man führte ihn vor den König und der fragte nach dem Grund des Besuchs. Der Mann sagte: „Herr, merkt Ihr denn nicht, dass Euer Volk leidet? Wisst Ihr denn nicht von all den abwandernden Händlern und Handwerkern? Euer Land wird bald so leer sein als sei es eine Wüste.“

Unsinn“, mischte sich Peter Hartherz ein, „das Volk ist still und beugt sich dem Unvermeidlichen. Wollen die Leute etwas essen, sollen sie arbeiten. Die Untertanen sind faul.“

Der Fremde schüttelte seinen Kopf: „Edelmann, Ihr wisst nicht, was Ihr sagt. Die Bürger können nichts arbeiten, weil alle Händler und Handwerker das Land verlassen. Selbst die Bauern ziehen aus dem Königreich hinaus. Wie soll da jemand noch eine Arbeit finden?“

Peter Hartherz jedoch wollte den Worten des Mannes keinen Glauben schenken. Er meinte nur: „Was Ihr da redet ... Niemand verlässt dieses Land. Den Händlern, Handwerkern und Bauern geht es doch gut. Die arbeiten ja auch. Außerdem bekommen die Faulpelze noch viel zu viele Spenden von unserem gütigen König.“

Herr, die Menschen verhungern.“

Mehr wollte der König nicht hören. Er vertraute darauf, dass der Edelmann Hartherz nur zum Wohle aller handelte. Immerhin wollte er die Bürger nur antreiben, endlich mit dem Müßiggang aufzuhören. Daran war ja nichts falsch.

Traurig über die Uneinsichtigkeit des Königs verließ der Fremde wieder das Schloss. Bevor er ging, warnte er: „Wenn das Volk erst einmal verschwunden ist, wird auch der König verschwinden. Denn niemand braucht ihn dann noch.“

Kaum hatte der Mann den Thronsaal verlassen, brachen der König, seine Berater und der Edelmann Hartherz in schallendes Gelächter aus. Wie dumm der Kerl doch sein musste. Ein König war immer König, mit oder ohne Volk.

Nicht lange und dem König wurde zugetragen, dass seine Untertanen in Scharen das Land verließen. Wütend rief er: „Dann sollen sie doch gehen, aber ein Zurück gibt es nicht. Ich werde sie nicht mehr ins Land einlassen.“

Wieder verstrich ein halbes Jahr und dann kam eine neue Nachricht, die das Herz des Königs mit Schwere erfüllte. In den Schatzkammern wurde es leer. Je mehr Leute das Königreich verließen, umso weniger Steuern wurden eingenommen. Wütend schrie der König: „Dann haltet die auf, die noch hier sind. Lasst sie nicht flüchten. Die müssen dann eben für ihre feigen Brüder und Schwestern doppelt bezahlen.“

Ein Befehl ging an die königliche Armee: Jeder Auswanderer sollte an der Grenze aufgehalten werden. Niemand durfte mehr ausreisen. Leider fanden sich nicht genügend Soldaten, denn auch sie hatten ihren König verlassen. Traurig wanderte der König im Schloss umher. Wen sollte er denn nun regieren? Bei der Schatzkammer angekommen bemerkte er, dass die Tür nicht verschlossen war. Er warf einen Blick hinein und ertappte den Edelmann Peter Hartherz dabei, wie er sich emsig die Taschen mit den letzten Resten des Goldes füllte.

Was tut Ihr da?“, fragte der König erbost.

Der Edelmann bedachte ihn nur mit einem kurzen Blick und sagte: „Ich nehme mir noch rasch ein wenig von dem, was mir zusteht. Immerhin habe ich Euch gut beraten. Dann gehe auch ich, denn dieses Königreich ist mir zu leer.“

Was soll das heißen, Ihr hättet mich gut beraten? Seht doch in die Straßen der Städte und Dörfer. Alle sind fort. Niemand wohnt mehr in meinem Reich.“

Auf die Schelte des Königs hin lachte Hartherz: „Majestät, Ihr wolltet doch, dass die faulen Leute endlich verschwinden. Nun, sie sind doch verschwunden. Niemand wird euch mehr ausnutzen.“

So habe ich das aber nicht gewollt“, entgegnete der König, aber dem Edelmann war es gleich. Er stopfte sich das letzte Goldstück in die übervollen Taschen und meinte als er ging: „Ach, man kann nicht alles haben. Am Ende zählt doch nur das Ergebnis.“

Damit ließ auch er den König allein und die Berater folgten Hartherz auf dem Fuße.

In seinem einsamen Thronsaal setzte sich der König nieder und ließ sein Gesicht in den Händen versinken. Nichts mehr wollte er von der Welt sehen. Da bemerkte er, dass seine Augen durch die Hände hindurchsehen konnten. Erschrocken fuhr er auf und betrachtete Arme, Rumpf und Beine. Kein Zweifel, er wurde durchsichtig.

Plötzlich öffnete sich die Tür und der Fremde, der ihn damals gewarnt hatte, trat ein. Jetzt erkannte der König, dass es sich um seinen ehemaligen Berater handelte, der vor Jahren den Hof verlassen hatte.

Seufzend kam der ehemalige Berater näher heran. Er verschränkte seine Arme vor der Brust und sprach: „Herr, ich habe es Euch gesagt. Wenn Euer Volk verschwindet, werdet auch Ihr verschwinden. Nun seht Ihr, was Ihr davon habt, auf einen Betrüger zu hören, der Euch auch noch bestohlen hat. Hättet Ihr dieses Gold dem Volk gegeben, hättet Ihr Euch besonnen und die Händler und Handwerker hier behalten und noch mehr von ihnen in Euer Reich eingeladen, dann würdet Ihr jetzt noch regieren können.“

Mehr blieb nicht zu sagen, denn der König hatte sich bereits aufgelöst. Niemand wird sich mehr an ihn erinnern. Wenn doch, dann nur als einen schlimmen Traum, den man schleunigst vergessen sollte.

Der ehemalige Berater hingegen trat abermals eine Reise an. Er wollte jeden König vor dem Edelmann Peter Hartherz warnen, damit niemand je wieder auf dessen schlechten Rat hören sollte. Die Könige schenkten dem Reisenden Glauben und verboten einem jeden, dem Hartherz etwas zu verkaufen oder ihn in sonstiger Weise zu bewirten.

So hörte man bald von einem armen Mann, der in Lumpen gekleidet und hungrig von Land zu Land zog und sein Leid klagte. Niemand half ihm, niemand interessierte sich für das viele Gold, das er bei sich trug. Nur einige Räuber wurden auf ihn aufmerksam und raubten ihm alle Gulden.

Verarmt musste Peter Hartherz alsbald des Hungers sterben.

Jedem König war künftig die Geschichte vom verschwundenen Volk eine Warnung. Gab es Fragen, wie dies und jenes wohl zu lösen sei, riefen sie nach dem ehemaligen Berater des Königs, an den sich niemand mehr erinnerte und er stand ihnen freudig mit gutem Rat zur Seite.

 
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