Sven Späters Wortgrotte
 
  Home
  Der Autor
  Kurzgeschichten
  => McFinns Weide (Horror)
  => Die Schatten im Nebel (Horror)
  => Mein Traumfeind (Horror)
  => Schlurfende Elfen (Fantasy, Humor)
  => Dämonenstreik (Fantasy, Humor)
  => Lange Fahrt (Horror)
  => Jugendschutz in Deutschland - Schärfer als Chili (Satire)
  => Der verlorene Traum (Horror)
  => Naturinstinkt (Horror)
  => Eine Sache von Minuten (Horror)
  => Blauer Dunst (Horror)
  => Eine magische Nacht (Fantasy, Humor)
  => Paladin (Fantasy)
  => Vom mutigen Feigling und dem ängstlichen Helden (Märchen)
  => Das verschwundene Volk (Märchen)
  => Das wertvollste Geschenk (Märchen)
  => Speed Love (Humor)
  => Die Suppe ist versalzen (Drama)
  => Gesegneter Schulsport (Realsatire)
  => Kukident-Lachen (Realsatire)
  => Prinz Admin von Buren und die Forentrolle
  Gedichte
  Songtexte
  Aphorismen
  Fortsetzungsroman
  Leseproben
  Malen und Zeichnen
  Veröffentlichungen
  Links
  Gästebuch
  Kontakt
  Newsletter
  Impressum
Naturinstinkt (Horror)
 

Roger war immer ein wenig deprimiert, wenn er über früher nachdachte. Er kannte die Welt noch aus der Zeit, in der Sauerstoff nicht künstlich erzeugt werden musste. Eine Epoche der Erdgeschichte voller Tiere und Pflanzen aller Art, die ihr Leben in Freiheit und in der natürlichen Atmosphäre genossen. Kinder konnten über Wiesen laufen, blühende Blumen, Getreidefelder. So gerne war Roger durch die Wälder gewandert, hatte sich am nie fade werdenden Spiel der Natur erfreut.

Doch von alledem war nicht mehr sehr viel übrig geblieben.

In seiner unbeschreiblichen Gier nach Boden und der Vorherrschaft auf diesem Planeten hatte es der Mensch geschafft, sämtliche natürlichen Ressourcen auszubeuten und die Natur selbst zu einer unbedeutenden Variablen in seiner pervertierten Rechnung zu machen. Heute fanden sich Tiere und Pflanzen nur mehr dort, wo man es ihnen erlaubte; in extra für verschiedene Zwecke angelegten Biotopen. Alles wurde von der Welt abgeschirmt, eingepfercht in runde Bauten, mit großen Glaskuppeln überdacht. Es regnete nur dann, wenn der Bedarf von den computergesteuerten Anlagen als ausreichend genug errechnet worden war. In einigen Erholungszentren durften mutige Urlauber Sturmböen buchen oder versuchten sich an simulierten Kletterpartien. Vollkommen ungefährlich natürlich, denn Gäste wollten die Reisebüros erhalten, nicht vergraulen.

Alles war nur noch Attrappe. Auf dem Zenit seiner Tyrannei angelangt, unterjochte der Mensch alles Natürliche und überließ kaum mehr etwas dem Zufall. Ein unkontrollierbares Chaos passte nicht in das Weltbild der Menschheit.

Schlimm an dem heutigen Zustand war für Roger vor allen Dingen, dass er selbst viel dazu beigetragen hatte, die Erde mit einem Betonmantel zu überziehen, auf dem sich dicht an dicht Quader drängten. Sie waren alle miteinander verbunden. Wer wollte, konnte einfach von einem Land zum anderen spazieren, durch Röhren und Gänge, an deren Wänden Leinwände das Bild vermittelten, man befinde sich unter freiem Himmel und würde durch die Botanik stapfen. Geruchsdüsen verstärkten diesen Zauber mit speziellen chemischen Dämpfen.

Illusionen, nichts weiter als Taschenspielertricks.

Nur die alten Leute, zu denen auch Roger nun zählte, kannten noch den echten Himmel, wussten noch von wirklich frischer Luft. Keiner der nun Dreißigjährigen hatte je etwas anderes gesehen als das Betongefängnis, in dem sich die Menschheit begraben hatte.

Jenseits der dicken Wände gab es noch einige unbebaute Flächen, aber dort konnte nichts und niemand mehr leben. Die Atmosphäre war von Giften verseucht. Nur Staub und Steine waren dort draußen. In den kommenden Jahrzehnten sollten aber auch diese Stellen zum Bau weiterer Glötze genutzt werden.

Von einem blauen Planeten konnte längst nicht mehr die Rede sein. Satellitenaufnahmen zeigten lediglich eine graue Kugel, ohne Wolkendecke.

Dabei hatte man durchaus die Möglichkeit, Ozonschicht und Atmosphäre wieder gänzlich herzustellen. In fünf Jahren hätte die Welt wieder zu dem werden können, was sie einst ausgemacht hatte. Davon wollte aber niemand etwas wissen. Lieber verbarrikadierten sich die Menschen und fristeten ihr Dasein in einer Lüge.

Hey, Roger. Was sitzt du hier grübelnd in der Ecke herum? Wir haben noch viel Arbeit vor uns.“

Müde schaute Roger zu seinem Assistenten, der voller Tatendrang mit einem Hefter schwenkte. Die Aufzeichnungen einer neuen, verbesserten Baumsorte, die sie im Auftrag der Holliday-for-Families-Gesellschaft entwickeln sollten. Echt wirkende Rinde künstlich zu erzeugen war nicht einfach. Bisher gab es nur gummiartige Ummantelungen, die langsam aus der Mode kamen. Auch wenn niemand in die wirkliche Natur wollte, sollte das Schauspiel doch so perfekt wie möglich wirken.

Er lächelte den jungen Mann mit der altmodischen Hornbrille an und meinte: „Lass mir noch ein paar Minuten Zeit, Dan. Ich komme dann ins Labor. Sieh es als Eigenart alter Männer an.“

Seine letzten Worte garnierte Roger mit einem Zwinkern. Für Dan war er ein Idol. Oft genug bezeichnete er Roger unter Freunden als seinen Mentor. Diesen Jungen erfüllte es mit Stolz für jemanden zu arbeiten, der mehr Preise und Auszeichnungen für seine wissenschaftlichen Erfolge vorweisen konnte als sonst wer. Er selbst konnte nicht stolz darauf sein. Der Preis war viel zu hoch gewesen. All die Zertifikate, die kleinen Pokale und abstrakten Figuren aus Metall erinnerten ihn nur daran, dass durch seine Mitwirkung die Natur verbannt worden war.

Junge Forscher wie Dan hätten das nicht verstehen können. Sie alle kannten ja nichts anderes als die vorgegaukelte Welt. Künstlich erzeugtes Sonnenlicht sahen sie, nicht die wirkliche Sonne. So bestand das gesamte Leben der jüngeren Generation aus Produkten, die in naturwissenschaftlichen Laboren zusammengebraut wurden. Oder eben aus den Bildern, die ein Rechner erzeugte.

Gut, dann geh ich jetzt wieder an die Arbeit und du kommst einfach nach. Ohne dich können wir die Versuchsreihe nicht beenden.“

Roger nickte.

Nachdem Dan den Aufenthaltsraum verlassen hatte, widmete sich Dr. Roger Wood wieder seinen Erinnerungen an eine bessere Welt, die für immer ausgelöscht war.


 

Dr. Wood, bitte in Bio-Labor 2-3-4. Ich wiederhole: Dr. Roger Wood, bitte begeben Sie sich sofort in Labor 2-3-4.“

Etwas desorientiert erwachte Roger aus dem kurzen Schlummer. Er schaute auf seine Armbanduhr und sah, dass Dans Besuch bereits vor über vier Stunden stattgefunden hatte. Verdammt, die Tabletten machen einen viel zu schläfrig, dachte Roger. In seinem Alter sollte ein Mensch längst den Ruhestand genießen, aber das lag ihm nicht. Familie hatte er nicht. Zuhause erwartete ihn lediglich der Fernseher und eine spärlich eingerichtete Wohnung. Dr. Wood lebte für seine Arbeit.

Dr. Wood, bitte kommen Sie sofort in Bio-Labor 2-3-4. Es handelt sich um eine äußerst dringende Angelegenheit.

Ja, ja“, sagte er zu einem der Lautsprecher in der Zimmerdecke, obwohl er wusste, dass ihn niemand hören konnte, „ich bin ja schon auf dem Weg. Immer langsam mit den alten Zügen.“

Schwerfällig und so schnell es seine altersschwachen Beine erlaubten, eilte der Wissenschaftler zu dem genannten Labor. Vermutlich hatte Dan ihn ausrufen lassen, weil er und das Team einen der Versuche bereits gestartet hatten und nun in der Klemme steckten. Nicht, dass etwas passieren konnte, da sie an nichts weiter als Pflanzenfasern arbeiteten, aber jeder Rückschlag kostete Zeit und den Finanzgeber der Entwicklung bares Geld.

Wenn eine Firma absprang, weil ein Labor zu lange brauchte, die Kundenwünsche zu erfüllen, halfen auch Preise und Auszeichnungen nicht mehr. Dann war man abgeschrieben. Finanziell stand Roger auf mehr als sicheren Beinen, aber die Leute, die für ihn arbeiteten, waren auf den Job angewiesen. Er konnte sich keine Fehlschläge erlauben, durfte es nicht, denn das Team vertraute auf ihn.

Vor dem Laborraum hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt. Wissenschaftler und Studenten blockierten den Eingang und flüsterten miteinander. Als der erste Schaulustige Dr. Wood ankommen sah, gab er seiner Nachbarin einen kleinen Schubs und beide schauten zu Roger. Irgendwie hatten das auch die anderen bemerkt und schon ruhten auf Dr. Wood etliche Augenpaare in ausdruckslosen Gesichtern.

Er hasste es, beobachtet zu werden. Dr. Handerson, ein Dozent für Biochemie, bahnte sich einen Weg durch die Menge und kam schnellen Schrittes Roger entgegen. Er hob kurz seine Hand zur Begrüßung und zischte: „Wo waren Sie denn nur so lange? In Ihrem Labor ist der Teufel los, ich will gar nicht daran denken, was passiert, wenn das an die Medien gelangt. Lange kann ich meine Studenten nicht mehr im Zaum halten. Kommen Sie und sehen Sie zu, dass die Angelegenheit geregelt wird.“

Roger wusste nicht, wovon Handerson sprach, aber seiner Laune nach zu urteilen stand ihm eine Katastrophe bevor. Dabei konnte es unmöglich so schlimm sein, denn die Experimente waren harmlos.

Obwohl es nicht klug war, sich mit Handerson anzulegen, der zudem Rogers direkter Vorgesetzter war und die Gelder auf die verschiedenen Forschungseinrichtungen verteilte, konnte sich Dr. Wood nicht zurückhalten. Er funkelte seinen Chef an und meinte: „Alte Leute brauchen eben hin und wieder etwas Ruhe. Sie können das nicht verstehen, Sie junger Hüpfer. Was ist denn überhaupt geschehen? Der Weltuntergang wird uns ja nicht gerade ins Haus stehen.“

Handerson ignorierte den Sarkasmus und eilte Roger voraus. Mit fester Stimme schaffte er einen Durchgang für den alten Wissenschaftler, schob Studenten und Kollegen unsanft zur Seite. Auch wenn die Neugierde über das, was sich im Labor abspielte, manchen wie angewurzelt wirken ließ, entschloss sich doch ein jeder, Handerson nicht im Weg zu sein. Sie alle wussten, dass er jähzornig war. Wer sich ihm zu sehr widersetzte, konnte mit unangenehmen Sanktionen rechnen, ganz ohne weitere Vorwarnung.

Sein Weg durch die Ansammlung von Weißkitteln bereitete ihm ein ungutes Gefühl in der Magengegend, doch Roger sah sie an und schenkte ihnen ein Lächeln.

Kaum hatte er das Innere des Raums betreten, wandte sich Dr. Wood mit freundlicher Stimme seinem Publikum zu: „Meine Damen, meine Herren, ich versichere Ihnen, dass wir die Lage absolut unter Kontrolle haben. Bitte begeben Sie sich wieder an Ihre Arbeit, ich muss leider die Tür nun schließen. Wir wollen doch nicht, dass ich meine Konzentration verliere. Ich bin ja schon verkalkt, da ist Ruhe das Einzige, was mich davon abhalten kann, Fehler zu begehen.“

Einige lachten leise, während andere etwas zerknirscht dreinschauten. Noch hatte keiner einen Blick auf das werfen können, was die ganze Aufregung verursacht hatte. Also konnte alles fein säuberlich verschwiegen werden. Etwas würde man den Leuten erzählen, aber das war nicht Rogers Job.

Langsam löste sich die Menge auf und Dr. Wood schloss die Labortür.

Sein Blick wanderte über die Arbeitstische, die Computer, das Terrarium mit den kleinen gezüchteten Bäumen. Alles schien in bester Ordnung zu sein, nichts war zerstört oder wirkte in sonst irgendeiner Weise bedrohlich. Umso mehr wunderte ihn die blassen Gesichter von Dan und Joana, seinen beiden Assistenten. Auch Handerson schaute grimmig drein, mehr als sonst.

Da niemand etwas sagte, war es an Roger, den Anfang zu machen: „Also, was soll diese ganze Panik? Wie ich sehe gibt es hier nichts, das auf ein Desaster hindeutet.“

Joana senkte ihren Kopf und errötete. Sie sprach leise, sehr leise. Unverkennbar schämte sich die junge Wissenschaftlerin.

Die Leute waren da, weil ich ... ein wenig durchgedreht bin. Lag wohl an meinen Schreien auf dem Gang.“

Schreie? Wieso? Was ist denn nur passiert?“

Roger verstand immer weniger. Sie sollte endlich zur Sache kommen. Bevor Joana weiterreden konnte, winkte Handerson den alten Mann zu sich und deutete mit seiner anderen Hand auf den Boden: „Dr. Wood, erklären Sie mir bitte diese Schweinerei.“

Müde schlurfte Roger zu der ihm gezeigten Stelle. Kaum war er in Sichtweite dessen, was jeden in Aufregung zu versetzen schien, da stockte ihm der Atem. Keine Sekunde seines Lebens hatte er zu träumen gewagt, etwas derartiges noch einmal sehen zu dürfen.

Ein kleiner Grashalm hatte sich durch die Bodenplatten gebohrt und reckte sich den Neonleuchten entgegen. Nicht größer als Dr. Woods kleiner Finger, aber mit der Kraft des Lebens erfüllt. Beharrlich hatte sich dieses Wunderwerk der Natur seinen Weg gebahnt, ohne Rücksicht darauf, wieviel Beton und Stein durchbrochen werden musste. Faszinierend, dieser Lebenswille.

Roger stöhnte als er sich niederkniete, doch die Gelenkschmerzen beachtete er kaum. Behutsam streckte er seine Finger aus und streichelte den grünen Winzling. Wäre er allein, hätte Roger den Freudentränen freien Lauf gelassen. So aber schaute er nur breit grinsend zu seinen Assistenten auf und flüsterte: „Ein Wunder. Wir dürfen Zeugen eines wahren Wunders sein.“

Im Gegensatz zu Dr. Wood sah Handerson die Situation anders. Für ihn zeichnete sich dort das Versagen der Menschheit ab. Sie hatten doch die Natur in ihre Grenzen verwiesen, nichts mehr dem Zufall überlassen. Und doch stand er vor dem erneuten Ausbruch des Chaos. Wenn er an die Beseitigungskosten dachte, bekam Handerson Kopfschmerzen. Gott allein mochte wissen, welches Wurzelwerk sich bereits im Untergrund ausgebreitet hatte. Man müsste den Boden aufreißen und graben bis alle Pflanzenreste ausfindig gemacht waren.

Und da sprach dieser alte Narr, der vor ihm hockte, von einem Wunder. Wood war doch längst reif für den Ruhestand, der konnte gar nicht mehr die Tragweite dieses Unfalls begreifen. Im schlimmsten Fall verloren sie alle ihre Arbeit und konnten zu Schleusenpennern werden.

Wie dem auch sei, der Grashalm musste verschwinden. Vielleicht genügte es ja, die Stelle mit etlichen Chemikalien zu behandeln, die tief ins Erdreich vordrangen. Außerdem hatten die drei anwesenden Wissenschaftler nun ein Formular zu unterschreiben, dass nichts hiervon je an die Öffentlichkeit gelangen durfte.

Hören Sie“, sagte er, ohne seine Wut zu verbergen, „das Ding muss verschwinden! Spurlos! Und wehe Ihnen, wenn jemand davon erfährt. Dann können wir unsere Koffer packen. Sowas darf nicht passieren, wir dürfen dem Chaos nicht Tür und Tor öffnen.“

Handerson, sie verstehen doch gar nicht, was hier passiert“, fuhr Roger seinen Vorgesetzten an. Dieser Bürokrat begann ihn zu nerven. Die Natur hatte ihre eigene Ordnung, der Mensch hatte Chaos verursacht, indem er sich einfach selbst zum Gott erklärt hatte.

Schnell trat Dan zwischen die beiden Streithähne, bevor die Situation eskalieren konnte. Niemandem war mit wüsten Beschimpfungen und Drohungen geholfen, also musste es erst gar nicht dazu kommen. Er versprach Handerson, sich der Sache anzunehmen und alles zu tun, damit nichts Schlimmeres passieren konnte. Hinter seinem Rücken gab er Roger mit einigen Fingerzeichen zu verstehen, dass er auf der Seite seines Mentors stand, zuerst aber versuchen musste, Handerson loszuwerden. Wenn der gegangen war, konnten sie über alles in Ruhe reden.

Grimmig blickte Handerson noch einmal über Dans Schulter zu dem noch immer am Boden knienden Wissenschaftler.

Bringen Sie das in Ordnung“, sagte er schließlich zu Rogers Assistenten. „Vielleicht ist Dr. Wood ja einsichtig genug, die Leitung der Forschungen an Sie zu übertragen. Sie haben noch nicht den Sinn für die Realität verloren, hoffe ich.“

Mehr als ein kaltes Lächeln gab Dan dem Chef sämtlicher Forschungsstationen West-Washingtons nicht zurück, aber das genügte Handerson wohl. Er drehte sich um und stapfte festen Schrittes aus dem Labor.

Erst als Tür wieder eingerastet war, wandte sich Dan dem Mann zu, der ihn soviel gelehrt hatte. Wie er dasaß, ein alter Kauz, der wohl zum allerletzten Mal in seinem Leben die Stärke der Natur bewundern durfte. Schade, dass sein geheimer Wunschtraum nicht in Erfüllung gehen kann, dachte der junge Mann. Sie durften jetzt nicht nachgeben, nicht so kurz vor dem Ziel, das Leben selbst zu kontrollieren. Keine Zufälle mehr, die eine Spezies gefährdeten, keine Krankheiten mehr. Roger musste endlich einsehen, dass am Ende nur der Mensch die Möglichkeit besaß, alle Arten von Leben zu retten – und sei es allein in abgesicherten Umgebungen.

Eine lange Nacht stand den drei Forschern bevor, angefüllt mit Diskussionen und strategischen Überlegungen. Fest stand lediglich, dass vorerst niemand von dem Vorfall erfahren durfte.


 

Am nächsten Morgen wurde Roger unsanft durch das Kreischen des Nottelefons aus seinen Träumen gerissen. Er war durch Wälder gewandert, über Wiesen gelaufen und hatte sich im warmen Sonnenlicht gebadet. Nun schleuderte ihn ein scheußliches Geräusch wieder zurück in diese Welt voller Kälte und Betrug.

Benommen tastete er nach dem kleinen roten Knopf, der die Freisprechanlage aktivieren sollte.

Ja, was ist denn?“

Dan hier. Roger, du musst sofort ins Labor kommen! Wir haben ein gigantisches Problem!“

Sofort war der alte Mann hellwach.

Was ist passiert?“

Keine Zeit zu reden, Roger. Komm einfach her, ich versuche alles geheim zu halten, solange es geht, aber das wird wohl nichts mehr nützen. Roger, die Lage ist ernst!“

Damit endete das Gespräch und ein Freizeichen erklang. Seltsam, dachte Roger. Dan hat noch nie einfach aufgelegt oder sich dermaßen aufgeregt. Womöglich handelte es sich jetzt wirklich um eine Katastrophe. Der Junge machte nie unnötig Wind.

Zehn Minuten nach Dans Anruf stand Dr. Wood im Labor und sah sich der totalen Verwüstung gegenüber. Jeder Computer war in seine Einzelteile zerlegt worden, überall lagen auf dem Boden zerbrochene Flaschen und Gerätschaften. So musste es aussehen, wenn sich ein Sturm in einem geschlossenen Raum ausgetobt hatte. Auch das Türschloss war zertrümmert. Entweder wurde eingebrochen oder ... nein, das konnte nicht sein, das machte keinen Sinn.

Inmitten all der Scherben und Trümmer stand Dan und schaute mit besorgter Miene seinen Freund und Kollegen an: „Die Tür wurde von Innen aufgebrochen, Roger.“

Seine Worte klangen weit entfernt. Sie hätten ebenso gut aus einer anderen Dimension stammen können. Roger schaute ihm fragend in die Augen, aber auch dort fand er keine Antwort.

Was Dan gerade gesagt hatte, war absurd. Im Labor war nichts, das hätte ausbrechen können. Einzig und allein der kleine Grashalm hatte gestern Nacht, nachdem die Tür abgeschlossen worden war, das einzige Lebewesen dargestellt. Und Grashalme verwandelten sich nicht in Berserker.

Weiß der Sicherheitsdienst schon ...“

Nein“, fiel Dan ihm ins Wort, „ich habe gedacht, es sei besser, zuerst mit dir die Lage zu besprechen, Roger. Wir müssen jetzt verdammt vorsichtig sein. Da draußen schleicht vermutlich etwas herum, das gefährlich sein könnte. Auf alle Fälle müssen wir herausfinden, was dieses Chaos veranstaltet hat, bevor wir eine Panik auslösen.“

Dr. Wood stimmte den Überlegungen seines Assistenten zu. Er ging zu der Stelle, an der am Vortag der Grashalm gestanden hatte. Dort war nur mehr ein kleines Loch im Boden, aus dem langsam bräunliche Flüssigkeit quoll.

Was ist das?“ fragte er Dan.

Keine Ahnung. Auf alle Fälle stinkt es bestialisch und es breitet sich immer weiter aus. Ich habe nicht gewagt, eine Probe davon zu nehmen. Nicht, bevor du dir das angesehen hast.“

In dem Durcheinander suchte Roger nach einer kleinen Pipette oder etwas, mit dem er eine Probe der Flüssigkeit nehmen konnte. Schließlich entschied er sich für eines der noch intakten Glasplättchen für Untersuchungen unter dem Mikroskop. Vorsichtig kratzte er damit an der zähflüssigen Masse. Dann roch er leicht daran und sah Dan an.

Das ... das riecht nach ... Humus.“

Was?“

Roger lächelte den jungen Wissenschaftler an, der nicht genau wusste, wovon die Rede war: „Eine Art natürlicher Dünger, Mutterboden sozusagen. Die Essenz verwesenden Pflanzenlebens, wenn du es so ausdrücken möchtest.“

Angewidert verzog Dan das Gesicht. Er machte einen Schritt zurück als könnte ihn das Zeug anspringen.

Scheußlich“, sagte er und schüttelte sich. „Kein Wunder, dass die Natur als unsauber eingestuft wurde.“

Auf eine Diskussion wollte sich Dr. Wood nicht einlassen. Der arme Dan war zu jung um all das zu verstehen. Schade, wie weit sich die Menschheit von ihren natürlichen Wurzeln entfernt hatte.

Es war Dan, der wieder an das aktuelle Problem erinnerte: „Also, was sollen wir deiner Meinung nach jetzt tun? Etwas war hier drinnen und hat dieses Chaos angerichtet. Und Etwas ist nach draußen gegangen.“

Hm“, gab Roger zurück. „Alarm wurde bisher nicht ausgelöst. Wir haben also eine reelle Chance, diesen Vorfall sauber unter den Teppich zu kehren.“

Der junge Wissenschaftler riss seine Augen weit auf und starrte Dr. Wood fassungslos an.

Roger, hast du dich hier umgesehen? Wie sollen wir diesen Mist denn vertuschen und gleichzeitig noch nach etwas suchen, das sich überall herumtreiben kann. Zumal wir nicht einmal wissen, wonach wir suchen sollen.“

Einen Augenblick mal“, flüsterte Roger plötzlich als könnte er von unerwünschten Ohren gehört werden. „Schau dir unsere Palme an, die mit der neuen Rinde. Siehst du das?“

Dans Blick folgte dem Zeigefinger Dr. Woods. Hinter kugelsicherem Glas stand inmitten eines winzigen Biotops die vor kurzem entwickelte Palme. Ihr Stamm war perfekt, aber eigenartiger Weise blieb er nicht unbeweglich, wie man es von Holz erwartete. Die Bewegung war sehr langsam und nicht sofort ersichtlich, aber er pulsierte. In stetigem Rhythmus blähte er sich ein wenig auf und erschlaffte dann wieder.

Was ist das?“ fragte Dan und presste seine Nase gegen das kalte Glas, um alles noch etwas genauer beobachten zu können. Roger tat es ihm gleich, gab jedoch keine Antwort auf die Frage seines Assistenten. Für ihn war es ebenso unbegreiflich wie für Dan.

Das Ding pumpt doch. Roger, dieses Mistding pumpt! Was soll das?“

Wieder blieb Dr. Wood sprachlos. Er konnte keine Erklärung für das Geschehen liefern. Zweifelsohne bestand ein direkter Zusammenhang zwischen der Substanz, die unaufhaltsam aus dem Loch im Boden floss und dem pumpenden Baum.

Roger wusste nichts mit alledem anzufangen, bis ihn ein plötzlicher Gedankenblitz an den noch intakten Computer trieb.

Was tust du da?“

Warte“, antwortete Roger knapp, während er seine Finger über die Tastatur fliegen ließ. „Die Überwachungskamera, Dan. Wir haben sie doch installiert, um das Wachstum der Pflanzen zu dokumentieren. Sie erfasst einen Großteil des Labors. So finden wir eine Erklärung für ... all das hier.“

Ja, die Kamera hatte alles aufgezeichnet. Bis drei Uhr nachts war alles ruhig geblieben, doch dann hatte das Pumpen des Baumstamms Dimensionen angenommen, die wieder Roger, noch Dan vermutet hätten. Er blähte sich zu fünffacher Dicke auf und stieß mit aller Kraft etwas in den Erdboden. Aus dem Loch spülte die Substanz, die Dr. Wood als Humus bezeichnete, den Grashalm weg und es blieb nur ein sich weiter häufender Berg des stinkenden Matsches.

Nach einer Weile beruhigte sich die Palme wieder. Doch die Substanz veränderte sich nun. Sie bildete Blasen, bewegte sich – sie formte sich aus eigener Kraft zu etwas, das Ähnlichkeit mit einem humanoiden Lebewesen hatte. Keine Augen oder sonstigen Sinnesorgane waren zu erkennen. Dieses Wesen verfügte lediglich über einen ovalen Kopf mit einem schnabelartigen Auswuchs vorne, vier Tentakeln, die es als Arme einsetzte und drei weiteren an der Unterseite des Rumpfes. Beine sollten das wohl darstellen.

Mit den Greifarmen zertrümmerte das Monster die Laboreinrichtung und machte sich dann auf den Weg zur Tür. Ohne Schwierigkeit brach es das Schloss auf und verschwand in den dunklen Gang.

Ach du ...“

Dan fehlten die Worte. Sein Mentor hingegen packte ihn fest an der Schulter und rüttelte ihn: „Dan! Wir müssen raus hier!“

Der junge Wissenschaftler drehte sich zu der Palme hinter dem Panzerglas, die wieder begonnen hatte, stärker als zuvor ihren Inhalt in die Erde zu stoßen. Schon quoll aus dem kleinen Loch abermals die braune Substanz und begann bereits, die Gestalt eines Monsters anzunehmen.

Obwohl Dr. Wood selbst zur Flucht geraten hatte, blieb er nun wie angewurzelt stehen und beobachtete das Schauspiel. Fasziniert begutachtete er die von der Natur selbst erdachten Waffe gegen ihren schlimmsten Parasiten, den Menschen.

Roger! Verdammt, wir müssen weg hier und das alles melden. Vielleicht können wir noch größeres Unglück verhindern!“

Dr. Wood hörte seinem Assistenten kaum zu. Er schaute ihn nur lächelnd an und meinte: „Siehst du, das natürliche Leben findet immer einen Weg, sich durchzusetzen.“

Roger!“

Dans Worte blieben ungehört. Auch seine Versuche, den alten Mann aus dem Raum zu zerren, wurden von Roger abgewehrt. Er wollte nicht mehr in dem Betonsarg leben. Lieber starb er einen verdienten Tod für all das, was er der Natur angetan hatte.

Für den jungen Assistenten stellte das aber keine Option dar. Seine Welt bestand aus von Menschen geschaffener Ordnung, die es auf jeden Fall zu erhalten galt. Er ließ seinen Freund stehen und rannte auf den Gang hinaus. Schreie hallten durch die Flure, Schüsse.

Man hatte es also schon entdeckt und womöglich hatte es bereits die ersten Opfer gegeben. Wenn nicht ganz rasch etwas unternommen wurde, konnten sich die Biester wie eine Seuche verbreiten. Die Sicherheitskräfte mussten wissen, womit sie es hier zu tun hatten. Dan war davon überzeugt, dass Schusswaffen nicht die geringste Wirkung gegen etwas haben konnten, das weder über Herz, noch Gehirn oder innere Organe verfügte. Feuer oder Säure mochten hilfreich sein, aber das herauszufinden war Sache der Polizei.

Im Labor stand Dr. Wood einer Kreatur entgegen, die große Ähnlichkeit mit dem ersten Geschöpf aufwies, aber fast doppelt so groß schien. Es bewegte seine Tentakel auf den alten Mann zu und er erkannte, dass unzählige kleine Wurzeln aus den Enden sprossen. Sie berührten seine Haut, drangen sanft in ihn ein. Kein Schmerz, nur ein leichtes Stechen und Ziehen. Etwas wurde in seinem Körper verteilt, dass seine Nerven lähmte. Dann sah und wusste er alles.

Dr. Roger Wood wurde eins mit der Kreatur und der Erde. Sein Lächeln verschwand nicht als er sich langsam aufzulösen begann. Sein Geist war bereits mit der Erde verbunden und entgegen der armen Menschen, die noch nicht verstanden hatten, dass sie nichts verlieren, sondern alles gewinnen würden, wusste Dr. Wood nun von den anderen Wesen, die überall auf der Welt aus dem Boden gestiegen waren.

Er erkannte zerfallene Gebäude, auf deren Trümmern rasch die unterschiedlichsten Pflanzen, Gräser und Bäume wuchsen.

Er war gemeinsam mit Millionen anderer Seelen auf dem Weg, die Ganzheit des ewigen Kreislaufs zu erleben.

Er hatte für seine Sünden nicht zahlen müssen, die Natur hatte ihm stattdessen das Geschenk der Ewigkeit gemacht.

Und das war mehr als sich Roger je erhofft hatte.

Es waren schon 34165 Besucher hier!
 
   
Diese Webseite wurde kostenlos mit Homepage-Baukasten.de erstellt. Willst du auch eine eigene Webseite?
Gratis anmelden