Deine restliche Lebensdauer beträgt noch fünfzehn Minuten.
Die Stimme des Mikro-Computers in Jakes Kopf war sanft und dunkel. Er hatte damals den Tonfall seines Vaters gewählt als ihm an seinem zwölften Geburtstag das Implantat gesetzt worden war. Keinen anderen Menschen hatte er je so sehr geliebt, keinem anderen bedingungslos vertraut.
Und kein anderer hatte ihn später so sehr verletzt.
Nach Meinung der Suicide Inc. machte einem eine vertraute Stimme den letzten Gang wesentlich leichter. Nun musste Jake die letzten letzte Zeit, die ihm noch auf Erden blieb, mit einem Tyrannen in seinem Kopf verbringen. Die Computer der neuen Generation konnten nach Belieben neu programmiert werden, aber diese alten Dinger waren nur für den einmaligen Gebrauch konstruiert. Wer sich einmal entschieden hatte, musste sich damit abfinden.
Seit Aufkommen der Suicide Inc. vor mehr als vierzig Jahren hatte sich die Zahl der Selbstmorde drastisch erhöht. Es war nicht länger verboten oder verächtlich, sich das Licht dann auszuknipsen, wenn man es für richtig hielt.
Neue Gesetze hatten festgelegt, dass der Freitod alleinige Sache des Individuums war. Es brachte nichts, potentielle Selbstmörder schützen zu wollen, nur um sie dann doch zu verlieren. Dafür hatte man kein Geld. Wer sich bereit fühlte, rief einfach bei der Gesellschaft an, gab nach einem kurzen Gespräch mit einem Psychologen das persönliche Passwort durch und schon wurde der Chip über Telefon aktiviert. Danach folgte in festgelegten Intervallen eine Abschiedsrede und immer wieder die Mitteilung, wie lange man noch zu leben hat.
Gegen Ende wurde noch einmal die Nationalhymne zu einem Gebet gespielt und dann geschah es. Elektrische Impulse legten zuerst das Nervensystem lahm, bevor es zur Ausschüttung einer chemischen Substanz kam, die den Körper vollständig auflöste. Natürlich ohne andere Menschen oder Gegenstände zu gefährden.
Nichts blieb zurück, das hätte beerdigt werden müssen. Jedem musste klar sein, dass ein Selbstmörder kein Recht auf eine Trauerfeier hatte. Die Friedhöfe liefen ohnehin über, da stellten diejenigen, die sich der Dienste einer Suicide Inc. Filiale bedienten eine wahre Erleichterung dar.
Jake saß bei seiner letzten Tasse Kaffee als es an der Tür schellte. Seufzend erhob er sich und öffnete. Vor ihm stand sein Vermieter und hinter ihm eine Frau und ein Mann.
Mr. Loss konnte seine Verwunderung nicht verbergen. Er zwang sich zu einem Lächeln und meinte: „Oh, bitte entschuldigen Sie die Störung. Ich dachte, sie seien bereits ...“
Mehr kam nicht über seine Lippen, da die Situation auch so peinlich genug war. Vermieter wurden umgehend über das Ableben eines Mieters informiert. Wohnraum war knapp und auf jeden Toten kamen mindestens zwanzig Interessenten, die sofort bereit waren, eine freie Wohnung zu beziehen.
In diesem Fall musste die Liste sehr lang sein, wenn Mr. Loss nicht einmal warten konnte, bis Jake verschwunden war.
„Schon gut“, beruhigte er Mr. Loss, dessen Gesicht eine ungesunde rote Färbung angenommen hatte.
Der Vermieter konnte Jake nicht länger in die Augen blicken. Er stammelte nur: „Nun, wir werden dann ... später noch einmal vorbeischauen.“ Nach einer kurzen Pause fügte er noch ein unbeholfen hinzu: „Und ... na ... also ... gute Reise wünsche ich ihnen noch.“
Mit diesen Worten scheuchte er das Pärchen fort und folgte ihnen schnellen Schrittes. Wenn es sich vermeiden ließ, musste man nicht den Tod eines Menschen beobachten. Schon allein der Anstand vor den Sterbenswünschen eines Unglücklichen gebot es, sich zumindest abzuwenden. Besser noch, man war gar nicht dabei.
Keine Bange, in zehn Minuten ist alles überstanden. Hast du deinen Papierkram erledigt, die letzten Anrufe gemacht? Entspanne dich und denk an schöne Dinge, dann wird es leichter.
Jake versuchte die Stimme in seinem Kopf zu ignorieren, aber er schaffte es nicht. Sie löste Wut in ihm aus, Hass gegen einen brutalen Säufer, der ihm jedes Glück zunichte gemacht hatte.
Wen sollte er denn schon anrufen? Er war allein, niemand kümmerte sich darum, ob er lebte oder tot war. Samantha, die einzige Frau, die er je von ganzem Herzen geliebt hatte, war fortgelaufen, weil sie mit seinen Depressionen nicht hatte umgehen können. Jake machte ihr keine Vorwürfe, denn er wusste, wie schwierig sein Wesen für andere sein konnte.
Nicht einen Augenblick zweifelte er daran, dass die Wahl des Freitods die beste Lösung für alle darstellte, die ihn ertragen mussten. Bei der Arbeit hassten ihn die Kollegen und auch sein Chef war alles andere als begeistert von Jakes Leistungen. Hinzu kamen die vielen Fehlzeiten, wenn er sich aufgrund seiner seelischen Verfassung wieder einmal ein Attest besorgen musste.
All das sollte in Kürze vorbei sein. Kein Jake mehr, der den Mitmenschen zur Last fiel.
Keine Angst mehr, das Ende von Traurigkeit und Lethargie.
Bitter dachte er an das Gespräch mit der Psychologin, die ihm hätte Mut machen sollen. Was wusste die denn von dem Leben eines Außenseiters. Diese aufgetakelte Schnepfe in ihrem tollen Kostüm und der Daseinsfreude in ihren Augen. Sie hatte doch etwas erreicht, vermutlich lebte sie mit einem sie liebenden Mann zusammen, der keine Glatze hatte und nicht die Welt durch dicke Brillengläser betrachten musste. Nach Jakes Meinung war es ein attraktiver Anwalt, sportlich und intelligent. Nichts von alledem hatte er. Ihm war nur ein unscheinbares Äußeres und das Versagen in allen Bereichen bei der Geburt als Geschenk gemacht worden.
Hinzu kamen die Jahre, die er unter der Herrschaft seines Vaters verbracht hatte. Aus dem Mann, der einst Jakes Idol gewesen war, hatten etliche Fehlschläge ein Wrack gemacht. Erst war der Alkohol gekommen, bald darauf die Schläge und immer wieder das Gerede, wie unerwünscht sein einziger Sohn doch war. Wie sehr Jake in anwiderte.
Dieser Mistkerl. Nur durch ihn war Jake später nie in der Lage gewesen, ein wenig an sich selbst zu glauben. Kein Wunder, dass er nun als absoluter Versager auf seine Erlösung wartete.
Lange hast du nicht mehr, mein Sohn. Du solltest wissen, dass ich dich liebe.
Eine Lüge. Eine dreckige Lüge, die ihm dieser Computer erzählte. Sein Vater hatte ihn nicht geliebt, nicht nach dem Absturz in eine Spirale aus Abhängigkeit und Gewalt. Vielleicht war Jakes Kindheit ein schöner Traum gewesen, doch in der Jugend ... das große Erwachen. Wie gerne hätte er seinen Vater nun bei sich, damit der sehen konnte, zu was seine Ausbrüche nun letztendlich führten.
Mein liebster Sohn, in fünf Minuten reist du zu einer Welt, die nur Gutes für dich bereithält. Es tut mir leid, dich scheiden zu sehen, aber es ist dein Wunsch. Den respektiere ich. Lausche nun bedächtig den letzten Worten eines Mannes, der dich zu Gott führen wird. Lebe wohl.
Nein, so durfte es nicht enden. Wenn Jake starb, dann hatte sein Vater gewonnen. Einen Triumph wollte er dem dreckigen Bastard nicht gönnen.
Hektisch suchte er sein Notizbuch. Dort drinnen stand die Notfallnummer der Suicide Inc. Sie mussten es aufhalten. Noch war nichts wirklich verloren. Sein Leben konnte Jake ändern und mit Samantha musste er reden, dann kam sich bestimmt zu ihm zurück.
Während er suchte, redete ein Priester in seinem Kopf unablässig von der Schönheit des Himmelreichs und der Vergebung aller Sünden. Unterlegt wurde der Wortschwall von der amerikanischen Nationalhymne, denn auch Selbstmörder sollten als Patrioten von der Welt Abschied nehmen.
... in deinen letzten beiden Minuten solltest du selbst zu dem Schöpfer beten, mein Sohn.
Zwei Minuten? Wo war die Zeit geblieben. Nie im Leben konnten ihn nur noch zwei Minuten sein, bis ...
Endlich, die Notfallnummer. Jake griff zum Telefon als es plötzlich zu Läuten begann.
„Scheiße!“ brüllte er in den Hörer. „Geh aus der Leitung, verdammt!“
„Jake?“
Samanthas Stimme. Warum gerade jetzt? Hätte sie nicht ein wenig warten können. Er sollte rasch auflegen und später mit ihr reden, aber ihre Worte fesselten ihn.
„Jake, ist alles ok bei dir? Ich mache mir solche Sorgen um dich. Tut mir leid, dass ich einfach abgehauen bin, aber manchmal denke ich nicht nach. Wir müssen reden, Jake. Ich liebe dich so sehr, ich wollte dich nie wirklich verlassen.“
Nun hast du es gleich geschafft. Schließe die Augen und atme tief ein. Du wirst nichts spüren. Mein Beileid und ich wünsche dir einen angenehmen Aufenthalt im Paradies, mein Sohn. Schlafe friedlich, mein geliebter Junge.
„Nein!“ brüllte Jake und ließ den Hörer fallen. „Nein, nicht! Ich will ...“
Wie von Sinnen hämmerte er mit den Fäusten gegen seinen Schädel, dann wurde alles um ihn herum in Dunkelheit getaucht.
Aus dem Telefonhörer erklang noch immer Samanthas besorgte Stimme: „Jake? Jake, was ist los? Rede mit mir, bitte. Jake?“
Doch Jakes Wohnzimmer war leer als hätte er niemals existiert.